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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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gleich bin ich da.
    Dann wirst du den Weg sicher finden.‹ Und die Jüngere lief davon. Ein besonders kluger Zuhörer wird sich nun fragen, warum um alles in der Welt sie nicht einfach die Kammer der Älteren ebenfalls aufschloss und sie alle zusammen wegliefen.«
    Felt war so gefangen von der Geschichte, dass er einen Moment brauchte, um zu begreifen, dass Melrunden ihn angesprochen hatte. Er nickte.
    »Ja, allerdings, das erscheint mir seltsam, dass die anderen bleiben.«
    »Ha! Ich sagte es doch: Die Mittlere war ganz eigen.« Melrunden lehnte sich zu Felt und wisperte verschwörerisch: »Das Mädchen wollte den Jägersmann, der ein Zauberer war, für immer aus dem Wald vertreiben.« Sie richtete sich kerzengerade auf und aus den Decken erhob sich belehrend ein knochiger Finger. »Wenn sie nur einfach allesamt davonliefen, was hielte ihn ab, wieder in irgendeiner Gestalt zum elterlichen Hof zu schleichen und sie abermals wegzulocken?«
    »Nichts«, sagte Felt und hoffte, dabei eine einsichtige Miene zu machen. Melrunden sah ihn aber gar nicht an, sondern nickte vor sich hin.
    »Ja, ja«, sagte sie, »vorausschauend und klug war die Mittlere. So klug, dass sie der Jüngeren noch auftrug, die nun leere Kammer zu verschließen und auch sie selbst wieder einzuschließen, bevor sich das Kind endlich davonmachte. Es lief durch den dunklen Wald, aber es sagte immer laut vor sich hin:

    Eins und zwei und drei mal drei
    ein Stamm, ein Ast, ein Rabenei.
    ’s war nur ein Traum, es ist nicht wahr –
    von Baum zu Baum, gleich bin ich da.
    So hatte es keine Angst und kam glücklich zu Hause an. Am Morgen erwachte der Jägersmann aus einem schlechten Traum, stürzte zu den Kammern der Schwestern und rüttelte an den Türen. Aber sie waren alle verschlossen und da vergaß er den Traum. Am Abend öffnete er die Kammer der Älteren. Dieses Mal hatte er einen Fasan zum Essen gebracht. ›Bereite uns dasAbendessen‹, sagte er. ›Sehr gern‹, sagte die Ältere. ›Aber für einen guten Fasanenbraten brauche ich ein gutes Feuer. Geh und hol mehr Holz!‹ Das tat der Jägersmann und war voller Vorfreude auf den Braten und auf alles, was danach noch kommen sollte. Wie am Abend zuvor schloss die Ältere in der Zwischenzeit die Kammer der Mittleren auf; wie am Abend zuvor weinte diese später um die Unschuld ihrer Schwester und wie am Abend zuvor wurde die Ältere befreit, als der Jägersmann sich schlafen gelegt hatte. Wieder wurden alle drei Kammern verschlossen, aber die Mittlere ging diesmal mit der Älteren mit. Nur ein kleines Stück, dann umarmten sie sich und die Ältere lief durch den dunklen Wald. Weil sie dabei immer laut das Eins-zwei-drei-mal-drei-Sprüchlein vor sich hin sagte, fürchtete sie sich nicht und kam glücklich zu Hause an. Die Mittlere blieb in der Nacht unter den Bäumen beim Haus, von denen sie immer noch den Eindruck hatte, sie würden schlafen. Am Morgen erwachte der Jägersmann aus einem schlechten Traum, stürzte zu den Kammern der Schwestern und rüttelte an den Türen. Aber sie waren alle verschlossen und da vergaß er den Traum. Er verließ das Haus und das Mädchen ging ihm nach. Der Jägersmann wanderte durch den Wald und blickte mit seinen schwarzen Augen umher. Und wie er so ging, da trat er nach einem Stein und wanderte weiter. Aber das Mädchen sah, dass es in Wahrheit kein Stein, sondern eine Kröte war, und als es bei der Stelle vorbeikam, sagte es: ›Sei kein Stein, sei die Kröte, die du in Wahrheit bist.‹ Und schon hüpfte der Stein davon, denn es war ihm wieder eingefallen, was er wirklich war. Da kam der Jägersmann an einem Dornendickicht vorbei und schlug danach. Aber das Mädchen sah, dass es in Wahrheit kein Dornendickicht, sondern Spinnentiere waren, und als es an der Stelle vorbeikam, da sagte es: ›Sei kein Dornstrauch, sei das Gewimmel von Spinnentieren, das du in Wahrheit bist.‹ Undschon krabbelte der Dornstrauch auf vielen Beinen davon, denn es war ihm wieder eingefallen, was er wirklich war. Schließlich traf der Jägersmann auf ein altes Weib, das mit krummem Rücken Reisig vom Waldboden aufklaubte. Er holte tief Luft und pustete aus und in dem Wind, den er so machte, flog der Alten aller mühsam zusammengetragene Reisig davon. Das sah das Mädchen und wurde zornig und rief: ›Sei das Wasser, das du in Wahrheit bist, und ertränke ihn!‹ Und schon sprudelte eine Quelle, wo eben noch die Alte gestanden hatte, und das Wasser schwoll an und spülte den Jägersmann fort.

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