Zwölf Wasser
schaute auf sie beide herab. Ganz unberührt von Sturm und Wellen hing Marken dort und sah Smirns Narbenranken taghell leuchten und ihre Augen ein Licht aussenden, das strahlender als die Sonne war. Es war gespenstisch und doch auf schreckliche Weise schön. Weiß schäumendes Meerwasser überspülte sie; ihre Augen und ihr Mund blieben geöffnet, sie schrie, sie glomm, auch unter Wasser. Marken sah, wie Marken unter ihr sich übergab. Ansonsten wirkte sein Körper bleich, wie durchscheinend und ganz unbeseelt, während von Smirn eine ungeheure Präsenz ausging. Der schwebende Marken ließ seinen Blick schweifen. Weder der Steuermann noch der Kapitän waren zu sehen, das unbemannte Steuerrad drehte sich mal in die eine, mal in die andere Richtung. Das Schiff war nun ganz Spielball der Elemente, ein einziges, zerrissenes Segel flatterte noch an seinen Leinen und der Vordermast war verschwunden. Im Gewirr der Takelage hingen wie vergessenes Laub die Körper von drei Männern. Alle anderen schienen über Bord gegangen zu sein – der körperlose Marken war umhergeschwebt, hatte überall nachgesehen, aber kein Leben entdecken können. Da war plötzlich eine Sehnsucht nach sich selbst in ihm aufgestiegen, nach dem Marken, der inzwischen ganz still unter der sich immer noch windenden Unda lag. Er wollte zu ihm zurück. Doch bevor er über einen Weg nachsinnen konnte, wie er wieder zu sich selbst finden konnte, wurde seine Aufmerksamkeit abermals von den Narbenranken der Unda angezogen, die in diesem finsteren Sturm so schrecklich-schön leuchteten. Da sah er, dass sie sich veränderten, dass sie wuchsen, sich neu verästelten. Mit jedem Schwall hinterließ das Meerwasser ein neues Bild auf Smirns Haut. Marken sah noch genauer hin, kam der Unda ganz nah, näher als je zuvor. Nein, es war kein neues Bild,es blieb das alte, wurde nur immer genauer, feiner, tiefer. Hatten sich vorher drei Linien in Smirns Augenwinkeln gerankt, waren es jetzt schon zehn oder zwanzig. Und es wurden immer mehr: Haarfein malten sich die neuen Linien zwischen die alten, kunstvoll miteinander verschlungen, fast verwebt. Das Schöne war dieses wachsende, sich verfeinernde Bild, das einem kostbaren Gewirk glich – das Schreckliche waren die Schmerzen, die Smirn deshalb erleiden musste.
Nun hatte es Marken mit einem Mal sehr eilig gehabt. Der Wunsch nach Rückkehr in seinen Körper war mächtig geworden. Und da hatte er wieder die Kälte gespürt, den Schmerz, das Schaukeln des Schiffs und die Bewegungen von Smirn auf seiner Brust. Sie war etwas ruhiger geworden und der Himmel über ihnen war heller. Die Unda hatte nicht mehr geschrien, und als endlich die Sonne durchkam, hatte Marken alle seine Kräfte gesammelt, mit den Füßen nach den Kisten getreten, bis eine zerbrach und er Smirn und sich selbst aus dem Gefängnis befreien konnte.
Smirns Augen waren nun nicht mehr leer, sondern voller Licht und ihr Blick huschte hin und her. Es war, als lese sie mit großer Geschwindigkeit etwas, das sich direkt vor ihrer Nase befand und das nur sie sehen konnte. Sie stand im Abendrot an Deck des vom Sturm schwer mitgenommenen Schiffs und Marken hätte bei Smirns Anblick gleichzeitig lachen und weinen mögen. Nach wie vor war sie nicht ansprechbar. Ihr Umhang war verschwunden, ihr silbriges Gewand zerrissen. Ein Ärmel fehlte ganz und man konnte die Ornamente auf ihrer dunklen Haut pulsierend leuchten sehen. Auch auf ihrem Kopf pulsten die Narbenranken. Es war, als liefen Lichtwellen durch Smirns Körper, ein eigentümlicher Anblick. Aber sie lebte und sie war ihm nicht verloren gegangen. Das war ein großes Glück, fast schon ein Wunder, denn außer Marken und Smirn hatte niemand dasToben der Elemente überlebt. Nun, wo das Licht des Abends auf dem glatten Wasser schwamm, war kaum noch vorstellbar, was sie durchgemacht hatten. Sie hatten es beide überstanden. Doch weder ein Küstenstreifen noch ein anderes Boot waren zu sehen. Ohne Segel oder Steuermann, ohne die leiseste Ahnung, wo sie sich befanden, trieben Marken und Smirn in der Weite eines stillen Ozeans, den das rot glühende Licht der untergehenden Sonne in flüssigen Stahl verwandelte.
6
Tagelang trieben sie dahin, tagelang sah Marken nichts als bedeckten Himmel und graues Wasser. Die Sonne drang nur selten durch und ab und an kam ein scharfer Wind auf, begleitet von Regenschauern – es war Firsten. Aber kein Wetter war so schwer, wie der Sturm es gewesen war. Wohin mochte das Dunkelwesen,
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