Zwölf Wasser
hätte mich verwundert, wenn es anders wäre. Der Größe und Weite des Meeres kann sich kein beseeltes Wesen entziehen und die Menschen hatten schon immer ein besonderes Verhältnis zum Meer. Denn selbst wenn sie es nicht wissen, sie ahnen es: Der uns umfließende Weltenstrom birgt alles, was jemals war, vom ersten Anbeginn an. Es ist eine gewaltige, faszinierende Geschichte.« Sie blickte hinaus aufs Wasser und ihre Stimme wurde dunkler. »Aber es ist keine, die ich lesen kann. Das Epos der Weltmeere ist zu groß, als dass eine Unda es fassen könnte – wir sind das Gedächtnis des Kontinents, aber nicht das aller Welten und aller Zeitalter. Es gibt auch für die Undae Grenzen, die sie nicht überschreiten können, ohne dass es Konsequenzen hat.«
»Wie meinst du das? Welche Konsequenzen denn?«
Utate sah ihn nicht an, blickte weiter übers Wasser und antwortete nicht. Dann, endlich, drehte sie sich zu Kersted. Abergerade als sie sprechen wollte, rief einer der Nord-Kwother laut aus.
Triumphierend hielt er die Schöpfkelle hoch. Sie hatten die Quelle gefunden.
12
Aber sie zu erreichen war nicht so einfach. Zunächst mussten sie ankern. Ein Manöver, das aufwändiger war, als Kersted es sich vorgestellt hatte, und das die gesamte Mannschaft in Anspruch nahm. Er versuchte, so wenig wie möglich im Weg zu sein, und sprach wieder Utate an, die ihren Blick nicht vom Wasser lösen wollte und deshalb seltsam abwesend wirkte.
»Nun wird alles gut werden«, sagte er und merkte selbst, wie hohl das klang. Er meinte es dennoch ehrlich; Kersted glaubte fest an die Kraft der Quellen. Die Unda starrte reglos und stumm in die Fluten, was den jungen Offizier zunehmend bedrückte.
»Hohe Frau«, sagte er schließlich und die förmliche Anrede entlockte Utate ein zuckendes Lächeln. »Welche Konsequenzen musst du fürchten? Welche Grenze darfst du nicht überschreiten?«
»Der Weltenstrom birgt alles, was jemals war, von Anbeginn an«, wiederholte sie mit beinahe träumerischem Unterton. »Eine Unda muss sich in der Unendlichkeit der Geschichte, die der Weltenstrom weiterträgt, für immer verlieren. Im Meerwasser vergisst sie sich.«
Sie sah nun Kersted an, dessen Herzschlag sich beschleunigte. Aber Utate sprach ganz ruhig weiter: »Wenn ich ins Meer tauche, wenn ich mich in den Weltenstrom begebe, werde ich vergehen wie der Schaum, der nur kurz die Wellen krönt und verschwindet, sobald das Wasser wieder ruhig wird.«
»Ich verstehe nicht.«
Er wollte es nicht. Er wollte nicht verstehen und nicht einmal mehr Genaueres wissen.
Aber Utate fuhr fort: »Ich weiß viel, Kersted, meine Erinnerung reicht weit zurück. Dabei bin ich die Jüngste von uns, wusstest du das? Ich bin die Jüngste und Letzte der Undae, ich wurde ins Ende der Alten Zeit hineingeboren. Nun, darauf kommt es nicht an oder doch nur insoweit, als ich sagen möchte: Ich weiß viel, aber bei Weitem nicht alles. Mein Geist könnte noch vieles festhalten, er ist lange noch nicht müde. Kersted, ich könnte noch über viele Soldern hinweg, viele hundert Soldern, die Geschichte des Kontinents in mich aufnehmen.«
»Aber?«
Er flüsterte fast.
»Aber wenn ich mich in die unendliche Geschichte des Ozeans begebe, bin ich für diese Welt verloren. Unsere Welt ist nur eine von vielen in der Ewigkeit aller Welten, die waren, und derer, die noch kommen werden. So viel kann ich nicht fassen. Doch ich kann mich der Geschichte, dem Epos, auch nicht verschließen. Ich muss lesen. Mein Inneres wird überlaufen und mich hinwegschwemmen.«
»Dann darfst du eben nicht hinein! Muss das denn überhaupt sein?« Kersted beantwortete die eigene Frage sogleich mit Kopfschütteln. »Was hast du dir denn gedacht, Utate, dass ich dich einfach so in den Tod springen lasse?«
»Kersted, mich in der Geschichte des Weltenstroms zu verlieren empfinde ich nicht als sterben, im Gegenteil. Aber wenn du damit meinst, dass ich nicht mehr als Utate in diese Welt zurückkehren kann, sobald ich einmal ins Meerwasser getaucht bin, dann hast du recht.«
Ihre Gelassenheit machte ihn zornig. Nein, Utate war nicht gelassen: Sie war überheblich. Ein Ruck ging durch das Schiff,Kersted schwankte und die Mannschaft gab knappe Meldungen an den Kapitän weiter – der Anker war erfolgreich ausgebracht.
»Hast du das von Beginn an im Sinn gehabt?«, fragte Kersted so ruhig, wie es ihm möglich war. »Wolltest du nur diese eine Quelle aufsuchen und dabei … vergehen ?«
»Nein, das habe ich
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