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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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Stützpfeiler waren geschmolzen in der Hitze des Erdinnern, die hier nach oben drang.
4
    »Ich wollte Endhemones Weg nehmen, aber es gibt ihn nicht mehr.« Smirn wanderte in langsamen Schlenkern über die Terrasse. Marken lehnte an der Mauer, müde und doch in sorgenvoller Unruhe, und beobachtete, wie sich das Morgengrauen langsam in den Himmel schlich.
    »Dort oben, wo nun die Erde kocht, war ein Hochtal von einzigartiger Schönheit. Ich wünschte sehr, du hättest es sehen können, Marken   – der Anblick allein versöhnte mit so vielem   … Die Jas Lahwiach-Dhe , die Brücke der zwei Seelen, war als Bauwerk für die Ewigkeit gedacht, genau wie dieser Quellturm hier. Beide sind errichtet worden, als der Kontinent noch jung war, und beide sind für Endhemone gebaut worden.«
    Smirn sprach nicht direkt zu den Fensterschächten hin wie zuvor, aber doch so laut, dass die Hüterin sie hören konnte.
    »Jeden Tag vor Sonnenaufgang ging Endhemone den Pfad bis zum Tal und dort über die Brücke. In deren Mitte wartete Miwoghd auf sie. Sie strich mit den Fingerspitzen über sein Gesicht. Er küsste sie. Sie sprachen nicht, denn das war nicht notwendig. Dann ging Endhemone wieder zurück.«
    Marken begriff: Smirn beschwor die Vergangenheit nicht für ihn herauf, sondern für die Hüterin, die stumm im Dunkel hinter den Gittern verharrte und lauschte. Marken zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass sie Welsisch verstand. Sie hatte die Anfänge der Sprache selbst erlebt.
    »Wer denkt, das sei viel Mühe für einen Kuss, der irrt. Ein einziger Kuss von Miwoghd wäre es wert, den ganzen Kontinent zu durchwandern   – es gibt nichts in dieser Welt, das kostbarer ist. Denn Miwoghd hütet die Quelle der Liebe. Und die Liebe ist die große Sinnstifterin. Ohne sie wird alles bedeutungslos.Auch das eigene Leben. In einer Welt, in der es keine Liebe gibt, gibt es auch kein Leben.«
    Jetzt blieb Smirn stehen und sprach doch Richtung Endhemone.
    »Aber die Quelle ist nicht versiegt. Die Liebe hat diese Welt noch nicht verlassen. Endhemone hat sie ihr ganzes langes Leben hindurch geschützt   – wer zur Quelle der Liebe gelangen will, muss hier vorbei. An der unbestechlichen Hüterin und ihrem Schwert. Denn die Liebe nimmt jeden an, selbst ihren eigenen Mörder. Endhemones Prüfung hingegen hält kaum jemand stand.«
    Nun war der Weg zu Miwoghds Quelle ungangbar geworden. Endhemones Lebensaufgabe war mit der Brücke in sich zusammengestürzt. Marken ahnte, dass nicht dies allein der Grund für die tiefe Traurigkeit der Hüterin war. Es war die Trennung, die sie nicht verwinden konnte. Sie war der Liebe so nah gewesen wie kein anderes Wesen auf dem Kontinent. Die bloße Existenz des Hüters, der Quelle   – unerreichbar im Höhenzug auf der entfernten Seite des Tals gelegen, das ein brodelnder Kessel geworden war   – konnte ihr nicht genug sein. Aber was war mit ihrer eigenen Quelle? Die durfte sie doch nicht einfach aufgeben!
    Ein Flüstern drang aus dem Turm und wehte wie ein frühmorgendlicher Hauch ins Grau des beginnenden Tags. Marken schauderte, spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Das waren Abschiedsworte gewesen. Alles Reden war umsonst gewesen, die Hüterin wollte gehen.
    Smirn schrie auf. So plötzlich, so laut, so gequält, dass Marken wie unter einem Schwerthieb zusammenfuhr. Die Unda warf sich gegen das verschlossene Holztor, schlug darauf ein. Dann krallte sie ihre Hände in den Stein des Turms, als wollte sie ihn niederreißen. Die Narbenranken auf der dunklen Haut glommen hell und sie schrie, schrie in einem fort Endhemones Namen.Schließlich fuhr sie herum, starrte Marken an mit vollkommen schwarzen, weit aufgerissenen Augen   – und war verstummt.
    Im Rauschen des unter ihnen hindurchströmenden Wassers erst ein schleifendes, dann ein schmatzendes Geräusch. Unmittelbar gefolgt von einem dumpfen Schlag.
    Es war, als würde Smirn verlöschen. Die Augen fielen ihr zu. Die Narben verblassten, fast wurden sie gänzlich unsichtbar. Marken fasste sich gerade noch rechtzeitig, um die in sich zusammensinkende Unda aufzufangen. Er brauchte nicht durchs Gitter ins Innere des Turms sehen; er wusste auch so, dass Endhemone sich in ihr Schwert gestürzt hatte.
5
    »Utate, was sagt das Wasser? Wie schlimm steht es um diesen Fluss?«
    Kersted watete durch den Uferschlamm auf die Unda zu, die den ganzen Tag im Wasser verbracht hatte. Nun wurde es Abend und Utate hatte bisher kein Wort gesagt. Aber sie war

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