Zwölf Wasser
vielleicht war das einfach die pramsche Art. Sie hatte nicht das Gefühl, dass er wiederkommen würde.
Aber das tat er. Mendron kam wieder. Und wieder. Bereits die fünfte Nacht besuchte der Fürst Estrid nun und sie gingen langsam nebeneinander her durch den Garten. Der Himmel über ihnen wurde nicht mehr völlig dunkel, denn die Feuer kamen näher, hatten die Vorstadt schon fast ganz aufgefressen und brachten den Nachthimmel in einem finsteren Rotgold zum Leuchten. In der Luft lag Brandgeruch. Beide taten so, als nähmen sie es nicht wahr. Sie sprachen nicht über das Feuer, das Pram bedrohte, und sie sprachen nicht über die Gerüchte, die sich um Estrid und ihre vermeintliche Zauberkraft rankten. Auch die Kluft zwischen Pramern und Welsen war kein Thema – Estrid vermied es tunlichst, auch nur in die Nähe von Politik zu geraten. Inzwischen hatten ihre Landsleute die Lagerstadt wieder verlassen und waren heimwärts gezogen; am Berg bereitete man sich nach den Haf-Feiern auf den kommenden Firsten vor. Nun, da alle wieder in der alten Heimat waren, fühlte Estrid sich noch einsamer als zuvor. Ja, am Berg wurde gehungert, aber hier auch. Estrid hungerte nach Gesellschaft, nach Verständnis, und das war noch schwerer zu ertragen als das Ziehen im Leib, das sie von klein auf kannte und das sie gewohnt war. Nun war sie immer satt, doch es zog in ihrer Brust.
Estrid wollte es sich nicht eingestehen, aber sie erwartete nachmittags schon den Abend. Denn wenn die Schatten lang wurden und schließlich zusammenflossen, boten sie den Schutz, den Mendron brauchte, um heimlich zu der Frau zu gehen, die alle in Pram nur noch Ignamalja , Feuerkopf, nannten. Und er kam. Mit seiner Anwesenheit und seiner Stimme stillte er Estrids Hunger. Die Geschichten, die Mendron erzählte, waren wie lebhafte Träume und Estrid konnte hineintauchenwie in eine zweite Wirklichkeit. Sie vergaß alles. In Mendrons Gegenwart und umfangen von seinen Erzählungen war Estrid befreit von allen Sorgen, mehr noch: Sie fühlte sich erlöst. Er machte sie auf eine Art glücklich, die sie bisher nicht gekannt hatte, und es fiel Estrid von Nacht zu Nacht schwerer, sich dagegen zu wehren.
13
Diese Welsin war ein Naturtalent. Samirna konnte immer noch kaum fassen, was sie beim Bankett gesehen hatte. Was für ein Auftritt! Diese große Frau, dieser Feuerkopf, hatte geglüht vor Zorn, ihre Stimme war volltönend gewesen und die Sprache hart und fremd – die Welsin hätte gegen einen Sturm ansprechen können und dennoch wäre jedes einzelne Wort hörbar gewesen. Ja, und ganz Pram hatte sie nicht nur gehört, sondern sprach auch kaum noch über etwas anderes.
»Was für ein Auftritt«, wiederholte Samirna nun halblaut und erschrak. Denn statt verächtlich zu klingen, hatte sie mit unüberhörbarer Ehrfurcht in der Stimme gesprochen. So war es oft: Sie dachte nach, grübelte, nahm um sich herum kaum etwas wahr, und erst wenn sie sprach, wenn sie sich selbst hören konnte, verstand sie ihre eigenen Gedanken und Gefühle.
»Sie ist eben ein Naturtalent, nicht mehr und nicht weniger!«, rief Samirna nun laut aus in der Hoffnung, damit ihre Grübeleien zu einem Ende zu bringen. Es war schlimm genug, dass alle Welt an die Ignamalja dachte statt an sie, an Mirna, die Tausendfache. Und was tat der Fürst?
Samirna lachte. Laut und so herzlich, dass es ansteckend war. Es war jedoch niemand da, der hätte mit ihr lachen können, und sie selbst spürte unter dem Lachen etwas anderes mitschwingen: Angst. Sie fluchte. Noch schneller, noch energischer ging sie nun auf und ab. Im Augenwinkel beobachtete sie sich dabei und der Spiegel zeigte ihr die wehenden Rockschöße eines kostbaren Morgenmantels, wie zufällig sich lösende Haarsträhnen und Wangen, die sanft gerötet waren. Ihr Spiegelbild war eine begehrenswerte Schönheit.
»Es steht mir zu. Mir steht alles zu. Alles! Jedoch …«
Sie hielt inne, schlug die Augen nieder, beschämt wegen der Heftigkeit ihrer Forderung. Samirna überprüfte kurz ihre Haltung im Spiegel. Sie war perfekt: einsichtig, bescheiden und dennoch kraftvoll, nahezu drängend. Wer außer ihr hatte die Fähigkeit, derart komplexe Gefühlslagen auszudrücken? Niemand. Samirna sah sich und war überzeugt von ihrem Konterfei. Der Spiegel zeigte ihr eine Frau, die zur Fürstin geradezu geboren war.
»Ach, ist das so? Die Fürstin spielen kannst du auf jeden Fall – aber kannst du sie auch sein ?«
Der Frau im Spiegel stand echter Zweifel
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