Zyklus der Erdenkinder 02 - Ayla und das Tal der Pferde
überantwortet hatte, hatte sich verheerend auf ihren Geist ausgewirkt. Sie hatte sowohl an das Erdbeben als auch an die Menschen, denen sie geboren worden war, jede Erinnerung verloren. Sie waren für sie genau das gleiche, was sie auch für den Rest des Clans waren: die Anderen.
Dem launischen Frühling mit seinem jähen Wechsel von eisigen Hagelschauern zu warmem Sonnenschein gleich, fiel Ayla mit ihren Wünschen und Sehnsüchten von einem Extrem ins andere. Die Tage waren so schlecht nicht. In den Jahren ihres Heranwachsens hatte sie in der Nähe der Clanshöhle auf der Suche nach Kräutern für Iza und später auf der Jagd die Gegend durchstreift, und so war sie die Einsamkeit damals durchaus gewohnt gewesen. So kam es, daß sie vormittags und nachmittags, wenn sie zu tun hatte, nichts lieber wollte als zusammen mit Winnie im geschützten Tal bleiben. Doch nachts in ihrer kleinen Höhle, in der nur das Feuer und ein junges Pferd ihr Gesellschaft leisteten, sehnte sie sich nach einem anderen Lebewesen ihrer Art, um nicht mehr so allein zu sein. Im wärmer werdenden Frühling fiel ihr das Alleinsein schwerer als während des langen kalten Winters. In Gedanken weilte sie häufig beim Clan und bei den Leuten, die sie liebte, und sie sehnte sich schmerzlich danach, ihren Sohn im Arm zu halten. Jede Nacht beschloß sie, gleich am nächsten Morgen mit den Vorbereitungen für ihr Fortziehen zu beginnen, um diese am Morgen dann wieder hinauszuschieben und doch lieber mit Winnie auf die östlichen Ebenen hinauszureiten.
Ihre sorgfältigen, ausgedehnten Erkundungsritte bewirkten, daß sie nicht nur von dem Gelände eine genaue Vorstellung bekam, sondern auch von dem Tierleben auf der weiten Grasebene. Herden von Zugtieren hatten sich auf ihre jährliche Wanderung begeben, und so kam es, daß sie sich in Gedanken wieder damit beschäftigte, ein großes Tier zu erlegen. Als dieser Wunsch immer stärker Besitz von ihr ergriff, verdrängte er in ihrem Bewußtsein mehr und mehr den Gedanken an ihre Einsamkeit.
Sie sah zwar Pferde, doch in ihr Tal war keines zurückgekehrt. Das spielte keine Rolle. Sie hatte ohnehin nicht die Absicht, noch einmal Jagd auf Pferde zu machen. Es mußte schon ein anderes Tier sein. Wenngleich sie noch nicht wußte, wie sie sie gebrauchen wollte, nahm sie auf ihren Ritten jetzt ihre Speere mit. Die langen Schäfte waren recht hinderlich, und so ersann sie Halterungen für sie, in jedem Korb, den das Pferd links und rechts auf dem Rücken trug, eine.
Erst als sie eine Rentierherde beobachtete, nahm allmählich eine Idee Gestalt in ihr an. In ihren Mädchenjahren, als sie damit beschäftigt gewesen war, sich das Jagen beizubringen, hatte sie oft einen Vorwand gefunden, um sich in der Nähe der Männer aufzuhalten, wenn diese über ihr Lieblingsthema, die Jagd, redeten. Damals hatte sie sich vor allem für alles interessiert, was mit ihrer Jagdwaffe, der Schleuder, zusammenhing, doch die Ohren gespitzt hatte sie immer, gleichgültig, über welche Jagdart sie auch redeten. Auf den ersten Blick hatte sie die Tiere mit den kleinen Geweihen für eine nur aus Hirschen bestehende Herde gehalten. Dann sah sie die Kälber und erinnerte sich, daß bei den Rentieren nicht nur die Hirsche, sondern auch die Kühe ein Geweih tragen. Diese Erinnerung löste eine ganze Lawine von ähnlichen Erinnerungen aus – unter anderem die an den Geschmack von Rentierfleisch.
Wichtiger aber noch war, daß sie sich entsann, von den Männern gehört zu haben, daß die Rentiere im Frühjahr gen Norden ziehen und alle derselben Route folgen, gleichsam als gäbe es einen Weg, den nur sie allein sähen. Außerdem wanderten sie in verschiedenen Gruppen. Zuerst kämen die Kühe mit den Jungtieren, dann folgte eine Herde junger männlicher Tiere. Und später, wenn die Jahreszeit schon weiter fortgeschritten sei, kämen in ziemlich kleinen Gruppen die alten Kämpen denselben Weg entlanggezogen.
Ayla ritt gemächlich hinter einer Herde geweihtragender Renkühe und ihrer Kälber her. Die sommerlichen Schwärme von Mücken und Fliegen, die gern im Rentierfell, besonders um Augen und Ohren herum, ihre Eier ablegen und die Rentiere dazu treiben, kühlere Klimazonen aufzusuchen, in denen es nicht so viele Insekten gibt, fingen gerade erst an, sich bemerkbar zu machen. Mit ihren Gedanken ganz woanders, verscheuchte Ayla die wenigen, die ihr um den Kopf tanzten. Beim Aufbruch heute morgen hatte sich in tiefgelegenen Mulden und Senken noch
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