Zyklus der Erdenkinder 02 - Ayla und das Tal der Pferde
eines Höhlenlöwen – und einen menschlichen Schrei.
Ayla blieb stehen. Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Wie lange war es her, daß sie eine menschliche Stimme gehört hatte – dennoch wußte sie, daß diese Stimme von einem Menschen stammte – und noch etwas. Sie wußte, daß es sich um einen Menschen ihrer Art handelte. Sie war dermaßen vor den Kopf geschlagen, daß sie unfähig war zu denken. Der Schrei zerrte an ihr – es war ein Hilfeschrei. Aber sie konnte unmöglich einem Höhlenlöwen gegenübertreten oder Winnie einer dieser riesigen Raubkatzen aussetzen.
Das Pferd spürte, in welch verzweifelter Lage Ayla sich befand und wandte sich der Schlucht zu, obwohl das Signal, das Ayla ihr durch ihren Körperkontakt übermittelt hatte, bestenfalls halbherzig genannt werden könnte. Die Schlucht hatte keinen anderen Ausgang, wies am anderen Ende nur eine Geröllwand auf. Sie hörte das Knurren des Höhlenlöwen und sah seine rötliche Mähne. Dann ging ihr auf, daß Winnie überhaupt nicht nervös war, und sie begriff, warum.
»Das ist Baby! Winnie, es ist Baby!«
Sie lief in die Schlucht hinein, vergaß vollkommen, daß möglicherweise auch noch andere Höhlenlöwen da sein könnten, ja, dachte auch nicht daran, daß Baby nicht mehr ihr kleiner Gefährte, sondern ein ausgewachsener Löwe war. Er war Baby – etwas anderes spielte keine Rolle. Sie kannte keine Angst vor diesem Höhlenlöwen. Sie kletterte ein paar gezackte Felsen zu ihm hinauf. Er drehte sich um und fauchte sie an.
»Aufhören, Baby!« befahl sie per Zeichen und Laut. Er hielt nur einen Moment inne, doch inzwischen war sie neben ihm und stieß ihn fort, um sich seine Beute anzusehen. Die Frau war ihm zu vertraut, ihre Haltung erlaubte keinerlei Widerstand. Er trat beiseite, wie er es immer getan hatte, wenn sie zu ihm gekommen und begutachtet hatte, was er gerissen, und vielleicht das Fell für sich und auch ein Stück Fleisch hatte haben wollen. Außerdem war er nicht hungrig. Er hatte sich den Bauch an der riesigen Hirschkuh vollgeschlagen, die seine Löwin ihm angeschleppt hatte. Angegriffen hatte er nur, um sein Revier zu verteidigen – und auch dann noch hatte er gezaudert. Menschen waren keine Beutetiere für ihn. Dazu rochen sie zu sehr nach der Frau, die ihn großgezogen hatte; das war die Witterung von Mutter und Jagdgefährtin zugleich.
Wie Ayla sah, waren es zwei. Sie kniete nieder, um sie zu untersuchen. Was sich hauptsächlich in ihr angesprochen fühlte, war die Medizinfrau – aber sie war auch verwundert und erstaunt zugleich. Sie wußte, daß es sich um Männer handelte, wiewohl es die ersten Männer der Anderen waren, die sie zu Gesicht bekam, soweit sie sich zurückerinnern konnte. Sie hatte sich einen Mann zwar nicht vorstellen können, doch in dem Augenblick, da sie diese beiden sah, begriff sie, warum Oda gesagt hatte, die Männer der Anderen sähen aus wie sie.
Sie wußte auch sofort, daß für den Mann mit dem dunkleren Haar jede Hilfe zu spät kam. Er lag in einer völlig unnatürlichen Haltung da – sein Hals war gebrochen. Die Male der Reißzähne an seiner Kehle verrieten den Grund. Obgleich sie ihn nie zuvor gesehen hatte, wühlte sein Tod sie zutiefst auf. Tränen traten ihr in die Augen. Nicht, daß sie ihn liebte; wohl aber spürte sie, daß sie etwas unendlich Wertvolles verloren hatte, ehe sie je die Möglichkeit bekommen hatte, es schätzen zu lernen. Sie war völlig geknickt, daß das erste Mal, da sie einen ihrer eigenen Art sah, dieser jemand tot war.
Es drängte sie, sein Menschsein irgendwie anzuerkennen, ihn mit einer Bestattung zu ehren, doch als sie den anderen Mann genauer betrachtete, erkannte sie, daß das unmöglich sein würde. Der Mann mit dem gelben Haar atmete noch; allerdings spritzte das Leben stoßweise aus einer bösen Beinwunde heraus. Die einzige Hoffnung für ihn war, ihn so schnell wie möglich zu ihrer Höhle zu bringen, um ihn behandeln zu können. Für eine Bestattung blieb ihr keine Zeit.
Baby beschnupperte den dunkelhaarigen Mann, während sie sich bemühte, dem Blutfluß aus der Wunde des anderen mit einer Adernpresse Einhalt zu gebieten, die sie mit Hilfe ihrer Schleuder und einem glatten Stein zum Druckausüben improvisierte. Sie stieß den Höhlenlöwen von der Leiche fort. Ich weiß, er ist tot, Baby, aber trotzdem ist er nichts für dich! Der Höhlenlöwe sprang von dem Sims hinunter und ging sich vergewissern, daß die Hirschkuh immer noch in der Felsspalte steckte, in
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