Zyklus der Erdenkinder 02 - Ayla und das Tal der Pferde
und griff nach ihrem Amulett.
Sie schaffte es nicht, so klar zu denken, daß sie sich mit einer ganz präzisen Bitte an ihr Totem gewandt hätte – dazu war sie viel zu sehr von unerklärlichen Ängsten und widerstreitenden Gefühlen erfüllt –, aber sie wollte Hilfe. Es ging ihr darum, die Kraft ihres mächtigen Totems zu bewegen, sie bei ihren Bemühungen, diesen Mann zu behandeln, zu unterstützen. Sie mußte ihn retten. Warum, wußte sie nicht genau, und doch war ihr nie im Leben etwas wichtiger gewesen. Was es auch kostete – dieser Mann durfte nicht sterben.
Sie legte Holz nach und prüfte die Wassertemperatur in dem Ledertopf, der direkt über dem Feuer hing. Als sie es dampfen sah, streute sie Blütenblätter der Ringelblume hinein, und danach endlich wandte sie sich dem bewußtlosen Mann zu. Den Löchern im Leder, das er trug, entnahm sie, daß er noch andere Wunden hatte außer der an seinem rechten Schenkel. Sie mußte ihm die Kleider ausziehen, doch trug er keinen Überwurf, der mit einer Schlinge am Hals zugezogen war.
Als sie genauer hinsah, um dahinterzukommen, wie sie sie ihm ausziehen könne, erkannte sie, daß Leder und Pelz zurechtgeschnitten und dergestalt mit Riemen zusammengefügt worden war, daß Hüllen für Arme Beine und den übrigen Körper entstanden waren. Sorgfältig untersuchte sie die Nähte. Seine Hose hatte sie durchgeschnitten, um an den Oberschenkel heranzukommen, und sie fand, das sei immer noch die beste Methode. Noch größer war ihre Überraschung, als sie nach dem Durchschneiden des äußeren Gewands auf ein zweites stieß, das völlig anders aussah als alles, was sie jemals gesehen hatte. Nach einem ganz bestimmten Muster waren Muschelstücke, Knochen, Tierzähne und bunte Vogelfedern daran befestigt. Ob das eine Art Amulett ist? fragte sie sich. Es war ihr arg, hindurchzuschneiden, doch gab es keine andere Möglichkeit, dem Bewußtlosen das auszuziehen. Sie schnitt sehr vorsichtig und versuchte, dem Muster zu folgen, um so wenig Schaden wie möglich anzurichten.
Unter dem geschmückten Gewand fand sich noch eines, das den unteren Teil seines Körpers bedeckte. Dieses umschloß jedes Bein einzeln und war mit einer Schnur zusammengenäht worden, wurde an der Taille zusammengehalten wie von einer Beutelschnur und lag vorn übereinander. Auch dieses Kleidungsstück zerschnitt sie, wobei sie flüchtig wahrnahm, daß es sich in der Tat um einen Mann handelte. Sie lockerte die Adernpresse und löste das steife, blutgetränkte Leder sanft vom zerschundenen Bein. Sie hatte die Adernpresse auch unterwegs schon ein paarmal gelockert und dabei Druck mit den Händen auf das Bein ausgeübt, um zweierlei zu erreichen: daß einerseits nicht zuviel Blut austrat und andererseits die Blutzirkulation im Bein nicht ganz aufhörte. Die Anwendung einer Adernpresse konnte bedeuten, daß der Behandelte das betreffende Glied verlor, wenn die entsprechenden Maßnahmen nicht richtig begriffen und angewandt wurden.
Als sie zu den Füßlingen kam, die wiederum der Gestalt des Fußes nachempfunden und entsprechend zusammengefügt waren, hielt sie erneut inne; dann durchtrennte sie beherzt die Verschnürungen und Riemen und zog sie ihm aus. Seine Beinwunde näßte wieder, doch kam das Blut nicht mehr stoßweise; daraufhin untersuchte sie ihn rasch, um festzustellen, welches Ausmaß seine Verletzungen hatten. Die anderen Schrammen und Abschürfungen waren oberflächlich; allerdings bestand die Gefahr, daß sie sich entzündeten. Wunden, die von Löwenkrallen herrührten, neigten dazu zu schwären; das war ihr häufig sogar mit den kleineren Kratzern so ergangen, die Baby ihr beigebracht hatte. Doch daran dachte sie vorläufig nicht. Zunächst mußte sie sich um sein Bein kümmern. Dabei hätte sie fast eine weitere Verletzung übersehen: eine große Beule seitlich am Kopf, die er sich vermutlich beim Sturz zugezogen hatte, nachdem er von Baby angefallen worden war. Sie war sich nicht sicher, wie ernst diese Wunde genommen werden mußte, doch konnte sie sich Zeit nehmen, das herauszufinden. Die große Beinwunde fing wieder an zu bluten.
Sie drückte die Leiste, wusch dann die Wunde aus und benutzte dazu ein Kaninchenfell, das sie saubergeschabt und gewalkt hatte, bis es saugfähig geworden war; dieses Fell tunkte sie in den warmen Ringelblumenaufguß. Dieser Aufguß wirkte sowohl gefäßverengend als auch entzündungshemmend; auch konnte sie ihn später benutzen, um noch die kleineren Blutungen der
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