Zyklus der Erdenkinder 02 - Ayla und das Tal der Pferde
hatte, einen Ersatz. Trotzdem hinterließ diese totale Umwälzung einen bleibenden Eindruck bei ihr. Ihre Höhle und ihr Tal kamen ihr nicht mehr ganz so sicher vor wie bisher. Jeden Frühling machte sie eine Zeit der Unentschlossenheit durch – denn wenn sie das Tal verlassen und ihre Suche nach den Anderen wieder aufnehmen sollte, mußte das im Frühling geschehen. Sie mußte sich Zeit fürs Unterwegssein zugestehen, gleichzeitig aber auch Zeit mit einkalkulieren, die sie brauchte, um sich eine neue Bleibe für den Winter zu suchen, falls ihre Suche ergebnislos blieb.
In diesem Frühjahr fiel ihr die Entscheidung schwerer als sonst. Nach ihrer Krankheit hatte sie Angst, daß es sie womöglich im Spätherbst oder zu Winterbeginn erwischte, und ihre Höhle kam ihr nicht mehr so sicher vor wie bisher. Ihre Krankheit hatte nicht nur ihr Wahrnehmungsvermögen in bezug auf die Gefahren des Alleinlebens geschärft, sondern ihr auch bewußt gemacht, daß ihr menschliche Gesellschaft einfach fehlte. Selbst nachdem ihre Tier-Freunde zu ihr zurückgekehrt waren, hatten sie die Leere nicht auf die gleiche Weise gefühlt wie früher. Sie besaßen Gefühle und gingen auf sie ein, doch sich verständigen konnten sie sich nur auf einfachster Ebene. Ayla konnte ihnen nicht mitteilen, was ihr durch den Kopf ging, konnte ihnen keine Geschichte erzählen und weder ihr Erstaunen noch eine neue Entdeckung, eine neue Fertigkeit mitteilen, noch einen anerkennenden Blick von ihnen erwarten. Sie hatte niemand, ihre Ängste zu beschwichtigen oder sie zu trösten, wenn sie Kummer hatte; doch wieviel von ihrer Unabhängigkeit und ihrer Freiheit war sie bereit, gegen Geborgenheit und Gesellschaft einzutauschen?
Welchen Beschränkungen ihr Leben unterworfen war, war ihr erst aufgegangen, nachdem sie die Freiheit gekostet hatte. Sie traf nun mal gern selbst ihre Entscheidungen, wußte aber nichts von den Menschen, denen sie geboren worden war, hatte keine Ahnung, wie es gewesen war, ehe der Clan sie bei sich aufgenommen hatte. Sie hatte keine Ahnung, wieviel die Anderen von ihr verlangen würden; sie wußte nur, daß es ein paar Dinge gab, die sie nicht aufzugeben bereit war. Dazu gehörte Winnie. Sie war nicht bereit, das Pferd wieder aufzugeben. Ob sie bereit sein würde, auf die Jagd zu verzichten, darüber war sie sich nicht ganz im klaren; aber was würde geschehen, wenn sie ihr zum Beispiel das Lachen verboten?
Es gab sogar eine noch größere Frage, und wenn sie sie auch einfach nicht wahrhaben wollte, neben ihr verblaßten alle anderen. Was, wenn sie einige von den Anderen fand, und diese sie einfach nicht haben wollten? Vielleicht war ein Clan von den Anderen nicht bereit, eine Frau bei sich aufzunehmen, die darauf bestand, ein Pferd zur Gesellschaft zu behalten, die auf die Jagd gehen oder lachen wollte – was aber wäre, wenn sie sie selbst dann nicht haben wollten, wenn sie bereit war, alles aufzugeben? Doch bis sie sie gefunden hatte, durfte sie hoffen. Was aber würde sein, wenn sie ihr ganzes Leben allein bleiben mußte?
Derlei Gedanken quälten sie von dem Zeitpunkt an, da der erste Schnee schmolz, und so war es kein Wunder, daß sie erleichtert aufatmete, als die Umstände eine Entscheidung hinausschoben. Sie wollte Winnie nicht aus dem vertrauten Tal fortbringen, ehe sie nicht gefohlt hatte. Sie wußte, daß die Pferde für gewöhnlich irgendwann im Frühling Junge bekamen. Die Medizinfrau in ihr, die bei genug Geburten im Clan dabeigewesen war, um zu wissen, daß es jeden Tag losgehen konnte, ließ die Stute nicht aus den Augen. Sie unternahm auch keine Jagdausflüge mit ihr, ritt aber häufig aus, um nicht aus der Übung zu kommen.
»Ich glaube, wir haben das Mamutoi-Lager verpaßt, Thonolan.
Wir sind doch jetzt so weit im Osten«, sagte Jondalar. Sie folgten der Spur einer Herde von Riesenhirschen, um ihre Vorräte, die zu Ende gingen, wieder aufzufüllen.
»Ich glaube nicht … Schau!« Sie waren unvermutet auf einen Hirsch mit einem Schaufelgeweih von über drei Metern Durchmesser gestoßen. Thonolan zeigte auf das scheue Wild. In der Annahme, daß der Hirsch Gefahr witterte, erwartete Jondalar jeden Augenblick, sein tiefes Alarmröhren zu hören, doch ehe der Bock einen Warnlaut ausstoßen konnte, brach eine Hirschkuh durchs Unterholz und hielt direkt auf sie zu. Thonolan schleuderte den Speer mit der Feuersteinspitze so, wie sie es von den Mamutoi gelernt hatten: daß nämlich die breite Spitze zwischen den
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