Zyklus der Erdenkinder 02 - Ayla und das Tal der Pferde
beherrschen – doch die durch Thonolans Tod geöffneten Schleusen setzten Empfindungen frei, die mit längst vergessenen Erinnerungen verbunden waren.
Serenio hatte recht gehabt: Für die meisten Menschen war seine Liebe zuviel. Und war sein Zorn erstmal entfesselt, gab es auch für ihn kein Halten mehr. Beim Heranwachsen hatte er in rechtschaffener Wut einmal solche Verheerungen angerichtet, daß er jemand beinahe umgebracht hätte. Alle seine Gefühle waren zu machtvoll. Selbst seine Mutter hatte sich gezwungen gesehen, sie sich vom Leibe zu halten, und hatte mit schweigendem Verständnis zugesehen, wie Freunde sich zurückzogen, weil er sich zu heftig an sie klammerte, sie im Übermaß liebte und zu viel von ihnen erwartete. Ähnliche Züge kannte sie von dem Mann, mit dem sie einst verheiratet gewesen und dessen Herdfeuer Jondalar geboren war. Nur sein jüngerer Bruder schien imstande, mit seiner Liebe umzugehen, sie ohne weiteres anzunehmen und die Spannungen, die sich daraus ergaben, lachend abzutun.
Als sie nicht mehr mit ihm hatte fertigwerden können und die ganze Höhle in Aufruhr geraten war, hatte seine Mutter ihn zu Dalanar geschickt. Das war ein kluger Schritt gewesen. Denn als Jondalar zurückgekehrt war, hatte er nicht nur ein Handwerk erlernt, sondern auch noch gelernt, seine Gefühle zu beherrschen. Außerdem war er zu einem großen, muskulösen, bemerkenswert ansehnlichen Mann mit erstaunlichen Augen und einer unbewußten Ausstrahlung herangewachsen, die seine ganze Tiefe zum Ausdruck brachte. Besonders Frauen spürten, daß mehr an ihm sei, als er zu zeigen bereit war. Er wurde zu einer unwiderstehlichen Herausforderung, doch keine konnte ihn ganz gewinnen. Mochten sie seiner Tiefe auch noch so sehr nachspüren, seine tiefsten Empfindungen erreichten sie nicht, und mochten sie auch noch soviel nehmen, er hatte immer noch mehr zu geben. Er fand rasch heraus, wie weit er bei einer jeden gehen könne, doch für ihn waren diese Beziehungen oberflächlich und unbefriedigend. Die einzige Frau in seinem Leben, die ihm auf gleicher Ebene begegnet war, war einer anderen Berufung gefolgt. Sie wäre aber in jedem Fall nicht die richtige Frau für ihn gewesen.
Sein Kummer stand der Tiefe seines Wesens in nichts nach, nur – die Frau, die ihn umfangen hielt, hatte Gram gekannt, der nicht minder groß gewesen war. Sie hatte alles verloren – und das mehr als einmal; sie hatte den kalten Hauch der Geisterwelt verspürt – mehr als einmal; und doch hatte sie durchgehalten. Sie spürte, daß sein leidenschaftlicher Ausbruch mehr war als der Ausfluß von normalem Herzeleid und verschaffte ihm kraft ihres Verständnisses Linderung.
Als er nicht mehr von Schluchzen geschüttelt wurde, merkte sie, daß sie, während sie ihn in den Armen hielt, leise vor sich hinsummte. Mit diesem Gesumm hatte sie Uba, Izas Tochter, in den Schlaf gewiegt; und hatte erlebt, wie ihr eigener Sohn die Augen dabei geschlossen hatte; und sie hatte ihren eigenen Kummer und ihr eigenes Gefühl der Verlassenheit mit dem gleichen, einlullenden Laut beschwichtigt. Er war eben angemessen. Schließlich, tränenlos und erschöpft, ließ er von ihr ab. Den Kopf abgewandt, starrte er die Wand der Höhle an. Als sie seinen Kopf drehte, um ihm die Tränen mit kaltem Wasser abzuwischen, schloß er die Augen. Er wollte – oder konnte – sie nicht anblicken. Bald entspannte sich sein ganzer Körper, und da wußte sie, daß er schlief.
Sie ging nachsehen, was Winnie mit ihrem Füllen machte; dann trat sie hinaus. Auch sie kam sich völlig entleert vor, gleichzeitig aber auch erleichtert. Vom äußersten Ende des Simses aus blickte sie hinaus ins Tal und dachte daran, welche Angst sie gequält hatte, als sie mit dem Mann hinten auf dem Zuggestell hierhergekommen war – und an ihren heißen Wunsch, daß er nicht sterben möchte. Sie eilte zurück in die Höhle und vergewisserte sich, daß er noch immer atmete. Sie trug die kalte Suppe zurück ans Feuer – er hatte andere Stärkung nötiger gehabt – und überzeugte sich, daß ihre Kräuter vorbereitet wären, wenn er erwachte. Dann ließ sie ich leise auf dem Fell neben ihm nieder.
Sie konnte sich nicht an ihm sattsehen und betrachtete sein Gesicht, als ob es darum ginge, all die Jahre der Sehnsucht nach dem Anblick eines anderen Menschen nachzuholen. Nun, da er ihr nicht mehr ganz so fremd war, sah sie sein Gesicht auch mehr als ein Ganzes, nicht nur als Nebeneinander verschiedener Züge. Sie
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