Zyklus der Erdenkinder 02 - Ayla und das Tal der Pferde
überzugehen. Sie runzelte die Stirn. Ich sollte wissen, wie viele Tage ich jetzt hier bin – vielleicht ist die Jahreszeit schon weiter fortgeschritten als ich denke. Einen Moment befiel sie Panik. Nein, so schlimm kann es noch nicht sein, sagte sie sich. Es schneit nicht, ehe die Früchte gereift sind und die Blätter fallen; trotzdem sollte ich es wissen. Ich sollte mir merken, wie viele Tage vergehen.
Sie erinnerte sich, wie Creb sie vor langer Zeit darin unterwiesen hatte, einen Stecken einzukerben, um das Verstreichen der Zeit festzuhalten. Er war damals erstaunt gewesen, wie schnell sie begriffen hatte, um was es ging; er hatte es ihr ja nur erklärt, um ihrer unablässigen Fragerei zu entgehen. Eigentlich hätte er ein Mädchen niemals in geheimes Wissen einweihen dürfen, das heiligen Männern und ihren Gehilfen vorbehalten blieb. Wie er ihr eingeschärft hatte, das nie zu verraten! Genauso erinnerte sie sich daran, wie erbost er gewesen war, als er sie dabei ertappt hatte, als sie einen Stecken einkerbte, um die Tage zwischen zwei vollen Monden zu zählen.
»Creb, wenn du mir jetzt aus der Geisterwelt zusiehst, sei nicht böse«, sagte sie mit ihrer stummen Zeichensprache. »Du wirst ja wissen, warum ich das tun muß.«
Sie fand einen langen glatten Stock und kerbte ihn mit Hilfe ihres Feuersteinmessers ein. Dann überlegte sie und fügte noch zwei Kerben hinzu. Dann legte sie drei Finger über die Kerben und hielt sie in die Höhe. Ich glaube, es sind mehr Tage vergangen als das; nur – so viele wie diese Kerben, das weiß ich mit Gewißheit. Heute abend werde ich noch eine Kerbe hinzufügen, und das jeden Abend tun. Abermals betrachtete sie ihren Stab. Ich glaube, diese Kerbe vertiefe ich noch etwas, um den Tag zu kennzeichnen, an dem ich angefangen habe zu bluten.
Der Mond war, nachdem sie die Speere fertiggestellt hatte, bereits durch die Hälfte seiner Phasen hindurchgegangen, doch sie wußte noch immer nicht, wie sie Jagd auf das große Tier machen sollte, das sie brauchte. Sie saß am Höhleneingang und blickte auf die gegenüberliegende Wand und den nächtlichen Himmel. Die sommerliche Hitze war groß, und sie genoß die kühle Abendbrise. Sie hatte sich gerade ein Kleidungsstück für den Sommer gemacht, denn ihr großer Umhang war jetzt oft viel zu warm, um ihn zu tragen. Wenn sie auch in der Nähe der Höhle nackt herumlief – sie brauchte doch Beutel und Gewandfalten, um Dinge darin unterzubringen, wenn sie weiter fortging. Seit sie eine Frau war, trug sie auch gern ein fest um die vollen Brüste gewickeltes Lederband, wenn sie auf die Jagd ging. Das war beim Laufen und Springen angenehmer. Und im Tal brauchte sie sich nicht ständig um die verstohlenen Blicke von Leuten zu kümmern, die es sonderbar fanden, daß sie ein solches Band trug.
Sie hatte kein großes Fell, um sich ein Gewand daraus zu machen, doch zuletzt fand sie eine Möglichkeit, als Sommergewand enthaarte Kaninchenfelle zu tragen; damit blieb zwar ihr Oberkörper bloß, doch benutzte sie andere Felle als Brustband. Sie nahm sich vor, morgen früh mit ihren Speeren einen Ausflug in die Steppe zu machen und hoffte, auf Tiere zu stoßen, die sie jagen konnte.
Das flache Ansteigen am Nordende des Tals erleichterte den Zugang zu der Steppe, die sich östlich des Flusses erstreckte; im Westen war es der Steilwand wegen schwierig, die Ebene zu erreichen. Ayla sichtete eine Reihe von Rotwildrudeln, Wisent- und Pferdeherden und sogar eine kleine Herde Saiga-Antilopen, brachte jedoch nichts weiter als zwei Schneehühner und eine große Wüstenspringmaus mit nach Hause. Sie kam einfach nicht nahe genug an das große Wild heran, um mit dem Speer etwas ausrichten zu können.
Die Tage vergingen. Ayla war ständig mit dem Problem beschäftigt, ein großes Tier zu erlegen. Oft hatte sie den Männern im Clan dabei zugehört, wenn sie über das Jagen redeten – sie redeten fast über nichts anderes –, doch die waren immer gemeinschaftlich auf die Jagd gegangen. Am liebsten gingen sie so vor wie ein Rudel Wölfe: sie versuchten, ein Tier von seiner Herde zu trennen, sich bei der Verfolgung abzuwechseln und es so lange zu hetzen, bis es ermüdete und sie nahe genug herankommen konnten, um ihm den Todesstoß zu versetzen. Ayla hingegen war allein.
Manchmal hatten sie auch davon gesprochen, wie Katzen auf der Lauer lägen, um sich im geeigneten Augenblick auf ihr Opfer fallen zu lassen oder auch einen ungeheuren Satz zu machen und die
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