Zyklus der Erdenkinder 04 - Ayla und das Tal der Grossen Mutter
einmal Robben gesehen?"
Ayla schaute wieder über die See, aber jetzt richtete sie ihren Blick auf eine näher am Ufer liegende Stelle. Mehrere dunkle Geschöpfe mit hellgrauem Bauch watschelten unbeholfen über eine Sandbank, die sich hinter einigen Felsen gebildet hatte. Noch während sie hinschauten, stürzte sich der größte Teil der Robben ins Wasser, um einen Schwärm Fische zu verfolgen. Sie sahen ihre Köpfe auftauchen, und schließlich glitt auch das letzte Tier, kleiner und jünger als die anderen, ins Wasser. Dann waren sie verschwunden, so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren.
"Nur aus der Ferne", sagte Ayla, "in der kalten Jahreszeit. Sie hielten sich gern auf dem vor der Küste treibenden Eis auf. Bruns Clan hat sie nicht gejagt. Niemand vermochte sie zu erreichen, aber Brun hat erzählt, daß er einmal ein paar von ihnen auf den Felsen in der Nähe einer Meereshöhle gesehen hat. Es gibt Leute, die glauben, sie wären überhaupt keine Tiere, sondern Wassergeister, aber ich habe einmal Junge auf dem Eis gesehen, und ich glaube nicht, daß Wassergeister Junge bekommen können. Wo sie sich im Sommer aufhalten, wußte ich nicht. Sie müssen hierher gekommen sein."
"Wenn wir zu Hause sind, nehme ich dich mit zum Großen Wasser, Ayla. Das kannst du dir nicht vorstellen. Dies ist ein großes Meer, größer als jeder See, der mir je begegnet ist, und auch salzig, wie man mir sagte, aber es ist nichts im Vergleich zum Großen Wasser. Das ist wie der Himmel. Niemand hat jemals die andere Seite erreicht."
Ayla hörte die Begeisterung in Jondalars Stimme und spürte sein Verlangen, wieder in seiner Heimat zu sein. Sie wußte, daß er nicht zögern würde, sie auf der Suche nach Bruns Clan und ihrem Sohn zu begleiten, wenn sie ihn darum bitten würde. Aber sie wußte nicht, wo sie nach dem Clan suchen sollte. Und es war auch nicht mehr Bruns Clan. Jetzt war es Brouds Clan, und sie würde nicht willkommen sein. Broud hatte sie mit dem Todesfluch belegt; jetzt war sie für alle tot, ein Geist. Wenn sie und Jondalar dem Lager auf dieser Insel Angst eingejagt hatten, weil sie Tiere bei sich hatten und über die scheinbar übernatürliche Fähigkeit verfügten, sie zu lenken - wieviel Angst würden sie dann erst dem Clan einjagen, Uba und Durc nicht ausgenommen? Für sie würde sie aus der Geisterwelt zurückgekehrt sein, und sie glaubten, daß ein Geist, der aus dem Land der Toten zurückkehrte, nur kam, um ihnen Schaden zuzufügen.
Aber sobald sie sich nach Westen wandten, würde es endgültig sein. Durc würde nicht mehr sein als eine Erinnerung, und es würde keinerlei Hoffnung mehr geben, daß sie ihn jemals wiedersah. Das war die Entscheidung, die sie treffen mußte. Sie glaubte, sie schon vor langer Zeit getroffen zu haben; sie hatte nicht geahnt, daß der Schmerz noch immer so heftig sein würde. Sie wendete den Kopf ab, damit Jondalar die Tränen nicht sah, die ihre Augen füllten, während sie auf die weite, blaue Wasserfläche hinausstarrte und ihrem Sohn ein letztes, stummes Lebewohl zurief.
Sie kehrten der See den Rücken und wanderten zu Fuß durch das hüfthohe Steppengras zurück, damit die Pferde ausruhen und grasen konnten. Die Sonne stand hoch am Himmel und war grell und heiß. Hitzeschwaden stiegen von der staubigen Erde auf und verbreiteten das warme Aroma von Pflanzen und Humus. Auf der baumlosen Ebene auf der Kuppe der langen, schmalen Insel bewegten sie sich im Schatten ihrer Grashütte, aber die Verdunstung aus den sie umgebenden Wasserläufen machte die Luft feucht, und Schweißtropfen rannen ihnen über die staubige Haut. Für eine gelegentliche kühle Brise von der See waren sie dankbar.
Ayla blieb stehen, wickelte sich das Lederband ihrer Schleuder vom Kopf und steckte es in den Gürtel; sie wollte nicht, daß es zu feucht wurde. Sie ersetzte es durch ein gerolltes Stück weichen Leders ähnlich dem, das Jondalar trug, legte es um die Stirn und verknotete es am Hinterkopf; es würde die Schweißtropfen aufsaugen, die ihr über die Stirn rannen.
Als sie weitergingen, sah sie, wie ein trübgrüner Grashüpfer aufsprang, landete und gut getarnt im Gras verschwand. Dann entdeckte sie einen zweiten und weitere, die hin und wieder ihr Zirpen hören ließen. Sie erinnerten sie an die Heuschrecken, aber hier waren sie einfach Insekten unter vielen anderen, darunter Schmetterlingen mit bunten Flügeln, die über dem Schwingelgras tanzten, und einer harmlosen, den Bienen ähnelnden
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