Zyklus der Erdenkinder 04 - Ayla und das Tal der Grossen Mutter
gerade-gerichteten Mammutstoßzahn gefertigt war.
Attaroa ließ das Essen auftragen und befahl, daß den Männern im Pferch ihr Teil gebracht würde; darunter auch die Schale von Ayla und Jondalar. Dann setzte sie sich auf ihren erhöhten Sitz, was für alle anderen das Zeichen war, sich auf ihren Fellen niederzulassen. So konnte die Anführerin über die Köpfe der anderen hinweg auf sie niederblicken.
Als Ayla sich umsah, fiel ihr die Haltung der Demut auf, die alle Leute Attaroa gegenüber einnahmen. Sie erinnerte sie an die Clan-Frauen, wenn sie still vor einem Mann saßen und auf die leise Berührung an der Schulter warteten, die ihnen das Recht zu sprechen gab. Doch es gab einen Unterschied, der sich nicht so leicht beschreiben ließ. Im Clan hatte sie bei den Frauen nie den Widerwillen verspürt, den sie hier fühlte, oder einen Mangel an Respekt von selten der Männer. Dort war das einfach so Sitte, ohne Zwang erbracht; es stellte sicher, daß beide Seiten aufmerksam zuhörten.
Während sie auf das Essen warteten, betrachtete Ayla den Stab der Anführerin näher. Er glich dem Sprecherstab, den Talut und die Leute vom Löwen-Lager benutzten, nur die Schnitzereien waren ungewöhnlich und ganz anders als die auf Taluts Stab; dennoch schienen sie ihr irgendwie vertraut. Ayla erinnerte sich, daß Talut den Sprecherstab bei Zeremonien, aber auch bei anderen Treffen und Streitgesprächen gebrauchte.
Der Sprecherstab gab demjenigen, der ihn in der Hand hielt, das Recht, seine Ansichten vorzubringen, ohne dabei unterbrochen zu werden. Der nächste, der etwas sagen wollte, bat um den Stab und erhielt ihn. Bei hitzigen Diskussionen hielten sich die Leute nicht immer an diese Regel. Doch Talut gelang es gewöhnlich, jeden zu Wort kommen zu lassen.
"Dein Sprecherstab ist schön", sagte Ayla. "Darf ich ihn ansehen?"
Attaroa lächelte und hielt den Stab näher ans Licht des Feuers, gab ihn aber nicht aus der Hand. Sie wollte seine Macht für sich behalten. Jeder, der etwas zu sagen hatte, mußte sie um Erlaubnis bitten, und das galt auch für alle anderen Handlungen - wann man zum Beispiel die Speisen auftragen oder anfangen durfte zu essen. Ayla spürte, daß der Stab ein Mittel war, die Menschen zu beherrschen. Und das gab ihr zu denken.
Der Stab zeigte deutlich Spuren der Abnutzung. Das Muster der Schnitzereien stellte ein stilisiertes Abbild der Großen Erdmutter dar; konzentrische Ovale deuteten die Brüste, den Bauch und die üppigen Schenkel an. Der Kreis war das umfassende Symbol für die Gesamtheit der bekannten und unbekannten Welten und das Zeichen für die Große Mutter allen Lebens.
Der Kopf war ein umgekehrtes Dreieck, die Spitze bildete das Kinn, und die Basis, nach oben gekehrt, war gewölbt wie eine flache Kuppel. In die Fläche des Gesichts war eine Reihe horizontaler Doppelstreifen eingekerbt, an der Seite Linien vom Kinn bis zu den Augen. Der Raum zwischen den obersten horizontalen Doppellinien und den gewölbten Linien, die parallel zur Kuppel liefen, war mit drei Doppellinien ausgefüllt, die aufrecht standen und sich dort trafen, wo sich normalerweise die Augen berunden hätten.
Abgesehen davon, daß sich das Dreieck an der Stelle des Kopfes befand, erinnerten die Schnitzereien nicht im entferntesten an ein Gesicht. Den furchterregenden Anblick der Großen Mutter konnte kein Sterblicher ertragen. Ihre Macht war so groß, daß ihr Blick allein vernichten konnte.
Ayla erinnerte sich von dem Unterricht her, den sie von Mamut erhalten hatte, an die tiefere Bedeutung dieser Symbole. Die
drei Seiten des Dreiecks - drei war die Zahl der Großen Mutter - stellten die drei wesentlichen Jahreszeiten dar, Frühling, Sommer und Winter; daneben kannte man zwei untergeordnete Zeiten, Herbst und Mittwinter, die den kommenden Wechsel ankündigten - zusammen also fünf. Fünf, das hatte Ayla gelernt, war die verborgene Zahl ihrer Macht; das auf der Spitze stehende Dreieck jedoch wurde von jedem sofort verstanden.
Sie dachte an die Formen der Vogelfrau, die Ranec geschnitzt hatte. Ranec! Plötzlich erinnerte sich Ayla, wo sie die Gestalt auf Attaroas Sprecherstab schon einmal gesehen hatte. Ranecs Gewand! Das elfenbeinfarbene, weiche Lederhemd, das er zu ihrer Adoptionszeremonie getragen hatte!
Es war mit leuchtend gefärbten Stachelschweinborsten und feinen Sehnenfäden bestickt, die eine abstrakte Mutterfigur bildeten - fast eine Kopie der Gestalt auf Attaroas Stab. Beide zeigten die gleichen
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