Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
würden Menschen beistehen, nicht Tieren, aber sie half ihm trotzdem. Vielleicht um zu erfahren, ob sie es konnte. Der Gedanke, dass Menschen Tieren helfen können, hatte sich wohl in mir festgesetzt, als ich das kleine Fohlen sah. Mir war zunächst nicht klar, dass eine säugende Stute in meine Fallgrube gestürzt war, und ich weiß nicht, warum ich die Hyänen tötete, die hinter ihrem Fohlen her waren. Aber auf jeden Fall fühlte ich mich für das Fohlen verantwortlich und musste es großziehen. Ich bin froh darüber. Winnie ist zu meiner Freundin geworden.«
Shevola war fasziniert von der Geschichte, die Ayla so beiläufig erzählte, als wäre es etwas ganz Selbstverständliches. »Trotzdem beherrschst du diese Tiere.«
»Ich weiß nicht, ob ich es so nennen würde. Für Winnie war ich wie eine Mutter. Ich habe für sie gesorgt und sie gefüttert, und wir haben Verständnis füreinander entwickelt. Wenn man ein Tier findet, das noch sehr jung ist, und zieht es wie ein Kind auf, kann man ihm Verhaltensregeln beibringen, so wie eine Mutter ihrem Kind«, versuchte Ayla zu erklären. »Renner und Grau sind ihre Kinder, daher war ich bei ihrer Geburt dabei.«
»Und was ist mit dem Wolf?«
»Ich hatte Fallen für Hermeline aufgestellt, und als Deegie - eine Freundin von mir - und ich nach den Fallen schauten, entdeckte ich, dass jemand daraus gestohlen hatte. Dann sah ich einen Wolf, der einen Hermelin fraß, und wurde wütend. Ich tötete ihn mit meiner Steinschleuder und erkannte erst dann, dass es eine säugende Wölfin war. Damit hatte ich nicht gerechnet. In der Jahreszeit hat eine Wölfin für gewöhnlich keine Jungen mehr, die gesäugt werden müssen, also folgte ich der Spur bis zu ihrem Bau. Sie war eine Einzelgängerin, hatte kein Rudel, das ihr half, und ihrem Gefährten musste auch etwas zugestoßen sein. Daher stahl sie aus meinen Fallen. Nur ein Junges lebte noch, und ich nahm es mit. Damals lebten wir bei den Mamutoi, und Wolf wuchs mit den Kindern des Löwenlagers auf. Er hat nie erfahren, wie es ist, mit Wölfen zu leben, und hält Menschen deshalb für sein Rudel.«
»Alle Menschen?«, fragte Shevola.
»Nein, nicht alle, wenn er sich inzwischen auch an Menschenmengen gewöhnt hat. Jondalar und ich, und jetzt natürlich auch Jonayla, sind sein eigentliches Rudel, aber er zählt auch Marthona, Willamar und Folara zu seiner Familie, Joharran, Proleva und ihre Kinder ebenfalls. Er akzeptiert Menschen, die ich von ihm beschnüffeln lasse und ihm damit vorstelle, als Freunde, als eine Art vorübergehende Rudelangehörige. Alle anderen beachtet er nicht, solange sie den Menschen keinen Schaden zufügen, denen er sich nahefühlt und als sein Rudel betrachtet«, erklärte Ayla der begierig lauschenden jungen Frau.
»Was passiert, wenn jemand versucht, einem, dem er sich nahefühlt, etwas anzutun?«
»Auf unserer Großen Reise begegneten Jondalar und ich einer Frau, die böse war und Gefallen daran fand, Menschen wehzutun. Sie wollte mich töten, aber Wolf kam ihr zuvor.«
Shevola überlief ein Frösteln, ein angenehmes Schaudern. So ging es ihr auch, wenn ein guter Geschichtenerzähler eine gruselige Geschichte vortrug. Obwohl sie Aylas Worte nicht anzweifelte - sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Gehilfin der Ersten sich so etwas ausdenken würde -, war in ihrem Leben nie etwas Ähnliches passiert, und es kam ihr unwirklich vor. Aber da war der Wolf, und sie wusste, wozu Wölfe fähig sind.
Auf dem Pfad zwischen den Felswänden kamen sie schließlich an eine Abzweigung nach rechts, die zu einem Spalt führte, einem Eingang in der Felswand. Der Aufstieg war steil, und als sie den Spalt erreichten, stellten sie fest, dass ein großer Steinblock den Eingang teilweise versperrte, doch rechts und links davon gab es eine Öffnung. An der linken Seite war sie schmal, jedoch passierbar, rechts war die Öffnung viel größer, und man konnte deutlich erkennen, dass hier schon Menschen gewesen waren. Ayla entdeckte ein altes Polster auf dem Boden, dessen Grasfüllung durch einen Riss im Leder hervorquoll. Ringsum verstreut lagen die vertrauten Splitter und Bruchstücke, die jemand beim Feuersteinschlagen zum Anfertigen von Werkzeugen und Gerätschaften hinterlassen hatte. Abgenagte Knochen waren gegen die Wand geworfen worden und lagen auf dem Boden davor. Die beiden Frauen gingen ein Stück in die Höhle hinein. Wolf folgte ihnen. Shevola führte sie zu einigen Felsbrocken, nahm das Tragegestell ab stellte es
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