Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
der Mann und die Frau selbst zu beiden Meeresufern gereist, oder sie hatten sie von jemandem erworben, der dort gewesen war. Der Zeitaufwand für den Erwerb von Gegenständen, die nur der Zierde dienten, zeigte, dass die Zelandonii als Gesellschaft nicht um ihr Überleben zu kämpfen hatten, sondern im Überfluss lebten. Für die Maßstäbe ihrer Zeit waren sie wohlhabend.
Jondalar und die Erste waren näher gekommen, um zu sehen, was für Ayla hervorgeholt worden war. Obwohl sie beide wussten, dass die Fünfte Höhle ihr Ansehen unter anderem ihren Schmuckherstellern zu verdanken hatte, waren sie beim Anblick einer solchen Menge überwältigt. Unwillkürlich stellten sie im Stillen Vergleiche mit der Neunten Höhle an, aber wenn sie es sich recht überlegten, war ihre Höhle ebenso wohlhabend, allerdings auf etwas andere Art.
Der Zelandoni der Fünften Höhle nahm sie mit in eine weitere Felsnische in der Nähe, und auch diese war ausgemalt, hauptsächlich mit Ritzzeichnungen von Pferden, Wisenten, Hirschen, selbst der Teilansicht eines Mammuts, häufig mit rotem Ocker und schwarzem Mangan hervorgehoben. Das Geweih eines eingeritzten Hirschs zum Beispiel war schwarz umrahmt, während ein Wisent hauptsächlich rot eingefärbt war. Wieder wurden sie den Menschen vorgestellt, die dort wohnten. Ayla bemerkte, dass die Kinder, die zu der Unterkunft auf derselben Seite des kleinen Flusses gekommen waren, sich erneut versammelt hatten. Einige erkannte sie wieder.
Plötzlich überkamen Ayla Schwindel und Übelkeit, und sie hatte das dringende Bedürfnis, die Wohnstätte zu verlassen. Aus einem unerklärlichen Grund musste sie unbedingt ins Freie.
»Ich habe Durst, ich hätte gern etwas Wasser.« Sie ging rasch hinaus und lief an den Bach.
»Du musst nicht hinausgehen«, sagte eine Frau, die ihr gefolgt war. »Wir haben drinnen eine Quelle.«
»Ich glaube, wir müssen ohnehin alle gehen. Das Festmahl wird zubereitet sein, und ich habe Hunger«, verkündete der Zelandoni der Fünften Höhle. »Euch wird es nicht anders gehen.«
Sie kehrten zum Hauptabri zurück, zumindest hielt Ayla ihn dafür, und stellten fest, dass für das Festmahl alles bereitstand und auf sie wartete. Obwohl man für die Besucher Geschirr aufgestapelt hatte, holten Ayla und Jondalar ihre eigenen Becher, Schalen und Messer aus ihren Beuteln. Auch die Erste hatte ihr eigenes Essgeschirr dabei. Ayla brachte Wolfs Wasserschale mit, die falls nötig auch als Fressnapf diente, und dachte, sie sollte bald anfangen, Essgeschirr für Jonayla anzufertigen. Obwohl sie vorhatte, das Kind zu stillen, bis es mindestens drei Jahre zählte, würde sie Jonayla schon vorher andere Nahrung probieren lassen.
Vor kurzem hatte jemand einen Auerochsen erlegt. Eine gebratene Keule, auf einem Spieß über den Holzkohlen gedreht, war der Hauptgang. In letzter Zeit sahen sie die Wildrinder nur im Sommer, aber sie gehörten zu Aylas Lieblingsgerichten. Auerochse schmeckte ähnlich wie Wisent, wenn auch kräftiger, allerdings ähnelten sich die Tiere mit ihren harten, runden, gebogenen Hörnern, die spitz zuliefen und nicht jedes Jahr so wie Hirschgeweihe abgeworfen wurden.
Dazu gab es Sommergemüse: Stiele von Gänsedisteln, gekochter Gänsefuß, Huflattich und mit Sauerampfer gewürzte Nesselblätter. Schlüsselblumen in einem Salat aus jungem Löwenzahn und Klee. Duftende Blüten von Mädesüß verliehen einer Soße aus Holzäpfeln und Rhabarber, die zum Fleisch gereicht wurde, einen honigsüßen Geschmack. Die Mischung aus Sommerbeeren musste nicht gesüßt werden. Sie hatten Himbeeren, eine frühreife Sorte Brombeeren, schwarze Johannisbeeren, Holunderbeeren und entkernte Schlehen, obwohl das Entkernen viel Zeit in Anspruch nahm.
Als sie Wolfs Schale herausnahm und ihm den Knochen mit Fleischresten gab, den sie für ihn ausgesucht hatte, sah eine der Frauen den Wolf missbilligend an, und Ayla hörte, wie sie zu einer anderen Frau sagte, sie halte es nicht für richtig, einen Wolf mit Nahrung zu füttern, die für Menschen bestimmt war. Die andere Frau nickte zustimmend, doch Ayla war aufgefallen, dass die beiden den vierbeinigen Jäger schon zuvor ängstlich betrachtet hatten. Sie hatte gehofft, Wolf den Frauen vorzustellen, um vielleicht ihre Furcht zu mindern, doch sie gaben deutlich zu erkennen, dass sie der Besucherin der Neunten Höhle und dem Fleischfresser lieber aus dem Weg gingen.
Nach dem Festmahl wurde gegen die heraufziehende Dämmerung mehr Holz ins Feuer gelegt.
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