Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
und Ritzzeichnungen symbolisierten keine Namen, die Menschen erzählten der Großen Erdmutter auf diese Weise von sich selbst, stellten sich ihr dar. Oft hinterließen sie nur die Umrisse ihrer Finger, das genügte.
Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatten, band sich Ayla das Kind auf den Rücken. Jeder zündete eine Fackel an, bevor sie die Höhle betraten. Zelandoni ging voraus, Wolf bildete die Nachhut. Jondalar fiel ein, dass ihm die linke Höhle außergewöhnlich lang vorgekommen war - fast dreihundert Meter wand sie sich in den Kalkstein. Gleich am Anfang war sie leicht zu betreten und nicht weiter bemerkenswert. Nur ein paar Zeichen an den Wänden neben dem Eingang deuteten darauf hin, dass schon jemand hier gewesen war.
»Willst du nicht mit deinen Vogelstimmen zur Mutter sprechen, Ayla?«, fragte die Erste.
Ayla hatte die Frau leise, aber sehr melodisch summen hören und hatte nicht mit der Frage gerechnet. »Wenn du willst«, sagte sie und begann mit einer Reihe von Vogelrufen, die sie für sanftere Abendgesänge hielt.
Hundertfünfzig Meter vom Eingang entfernt, etwa auf halbem Weg, wurde die Höhle schmal, und die Laute hallten anders wider. An dieser Stelle begannen die Zeichnungen, die beiden Wände des gewundenen unterirdischen Gangs waren mit unzähligen, häufig nicht zu deutenden, sich überlagernden und verschlungenen Ritzzeichnungen überzogen. Erwachsene Frauen kamen am häufigsten in die Höhle, und demzufolge stammten die kunstvollsten Ritzzeichnungen für gewöhnlich von ihnen.
Vorherrschend waren Pferde, sowohl in Ruhestellung als auch mit lebhaften Bewegungen dargestellt, sogar im Galopp. Viele Wisente waren zu sehen, doch auch zahlreiche andere Tiere: Rentiere, Mammuts, Steinböcke, Bären, Raubkatzen, Wildesel, Hirsche, Wollnashörner, Wölfe, Füchse und mindestens eine Steppenantilope. Manche waren sehr ungewöhnlich wie das Mammut, dessen Rüssel nach hinten gebogen war. Der Kopf eines Löwen war verblüffend wiedergegeben, für dessen Auge ein natürlich eingebetteter Stein einbezogen worden war, ein Rentier, das sich zum Trinken herabbeugt, war auffallend in seiner Schönheit und seiner Wirklichkeitstreue. Die Wände waren brüchig und eigneten sich nicht so gut zum Malen, waren jedoch leicht einzukerben und zu ritzen, sogar mit den Fingern.
Auch menschliche Gestalten waren zu sehen, darunter Masken, Hände und verschiedene Silhouetten, doch stets verzerrt, nie so klar und schön gezeichnet wie die Tiere. Viele Ritzzeichnungen waren unvollständig und in einem Netz aus Linien vergraben, verschiedenen geometrischen Symbolen, keilförmigen Zeichen und undefinierbaren Kritzeleien, die sich - abhängig davon, wie man die Fackel hielt
- unterschiedlich auslegen ließen.
Wolf rannte vorweg in die weniger zugänglichen Teile der Höhle. Als er zurückkam, hatte er etwas im Maul, das er Ayla vor die Füße fallen ließ. »Was ist das?«, fragte sie und bückte sich, um es aufzuheben. Alle drei richteten ihre Fackeln darauf. »Zelandoni, das sieht aus wie ein Schädelstück!«, rief Ayla. »Und hier ist noch etwas, der Teil eines Kiefers. Er ist klein. Ich glaube, es könnte einmal eine Frau gewesen sein. Wo hat er das nur gefunden?«
Zelandoni nahm die Teile in die Hand und hielt sie in den Fackelschein. »Vielleicht wurde vor langer Zeit jemand in dieser Höhle bestattet. Die Leute leben schon seit Menschengedenken in dieser Gegend.« Sie sah, dass Jondalar unwillkürlich schauderte. Er überließ die Angelegenheiten der Geisterwelt lieber den Zelandonia, das wusste sie.
Jondalar hatte bei Bestattungen geholfen, wenn man ihn dazu aufforderte, aber er mochte diese Pflicht nicht. Wenn Männer zurückkehrten, nachdem sie Bestattungsgruben ausgehoben oder andere Tätigkeiten verrichtet hatten, die sie der Welt der Geister gefährlich nahe brachten, gingen sie für gewöhnlich zu der Grotte, die Männerplatz genannt wurde, um sich waschen und reinigen zu lassen. Diese Grotte lag auf dem Hochland, gegenüber der Dritten Höhle, auf der anderen Seite des Grasflusses. Auch hier galt, dass Frauen der Zutritt nicht verwehrt war, doch am Männerplatz beschäftigte man sich, ähnlich wie in den Randhütten der ledigen Männer, nur mit männlichen Belangen, und nur wenige Frauen, die nicht zur Zelandonia gehörten, gingen dorthin.
»Der Geist hat diese hier längst verlassen«, sagte Zelandoni. »Der Elan hat seinen Weg in die Welt der Geister vor so langer Zeit gefunden, dass nur noch Knochenstücke
Weitere Kostenlose Bücher