Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
auf Krallenspuren.
»Irgendwann haben Bären in dieser Höhle überwintert, aber ich habe sie nie gesehen«, sagte der junge Mann.
Gleich dahinter waren ein paar große Gesteinsbrocken aus der Wand oder von der Decke gefallen, daher mussten sie einzeln hintereinandergehen. Auf der anderen Seite der Felsbrocken hielt der Zelandoni die Fackeln erneut nach links. An der Wand befanden sich die ersten deutlichen Zeichen, dass schon früher Menschen hier gewesen waren: verschlungene, wirbelnde Fingerspuren verzierten die Stelle. Ein Stück weiter öffnete sich der Gang erneut.
»Linker Hand befindet sich der Nebenraum, aber dort ist nicht viel zu sehen, außer roten und schwarzen Punkten an manchen Stellen«, sagte der Zelandoni. »Obwohl es nur wenige sind, haben sie eine große Bedeutung; allerdings muss man zur Zelandonia gehören, um sie zu verstehen. Wir gehen weiter geradeaus.«
Hinter einem kleinen Vorsprung auf der rechten Seite blieb er vor einem Wandbild stehen, auf dem Fingerspuren in rötlichem Ocker und sechs schwarze Fingerabdrücke zu sehen waren. Das nächste Bild war komplizierter. Der junge Mann hielt die Fackel hoch, während sich alle zusammendrängten. Allem Anschein nach waren menschliche Gestalten dargestellt, allerdings sehr vage, beinahe gespenstisch, sowie mit Punkten gesprenkelte Hirsche. Es war sehr rätselhaft, spirituell, außerweltlich, und Ayla lief ein Schauer über den Rücken. Nicht nur ihr ging es so. Plötzlich wurde es sehr still. Erst als die anderen verstummten, merkte sie, dass sie sich leise unterhalten hatten.
An der linken Wand befand sich ein kleiner Vorsprung. Dahinter sah man eine Nische, die sich zu einem Wandbild weitete. Zuerst fielen Ayla zwei gewaltige Riesenhirsche auf, die schwarz umrissen waren und sich überlagerten. Der vordere war ein Bulle mit einem beeindruckenden, schaufeiförmigen Geweih. Ayla konnte seine dicken Halsmuskeln, die zum Tragen einer so schweren Last notwendig waren, deutlich erkennen. Der Kopf war klein im Verhältnis zum mächtigen Hals. Der schwarze Buckel auf seinem Widerrist war ein fester Höcker aus Sehnen und Flechsen - das wusste sie vom Zerlegen solcher Tiere -, die ebenfalls wegen des Gewichts des Geweihs nötig waren. Auch der Riesenhirsch hinter dem ersten hatte einen kräftigen Hals und den Höcker auf dem Widerrist, trug jedoch kein Geweih. Vielleicht eine Hirschkuh, doch Ayla vermutete, dass es eher ein anderer Bulle war, der sein Geweih nach der Brunft im Herbst abgeworfen hatte. Nach der Paarungszeit war die großartige Zurschaustellung, die seine enorme Kraft zeigte und die Hirschkühe anlockte, nicht mehr nötig, und er musste seine Energiereserven nutzen, um den kommenden eisigen Winter zu überstehen.
Sie hatte die beiden Riesenhirsche eine ganze Weile betrachtet, bevor sie das Mammut wahrnahm. Es befand sich innerhalb des Körpers des ersten Riesenhirsches und war unvollständig, nur Rücken- und Kopflinie waren dargestellt, doch der Umriss war eindeutig. Dabei fragte Ayla sich, was zuerst gezeichnet worden war, das Mammut oder die Riesenhirsche.
Ein Stück weiter kamen sie erneut zu einem Abschnitt, in dem Tiere in schwarzen Umrissen gemalt waren, auch hier gehörte ein Riesenhirsch mit gewaltigem Geweih dazu. Ergänzt wurde er durch die Teilansicht eines kleineren Hirsches, einer Wildziege und der Andeutung eines Pferdes mit hochstehender Mähne und dem Ansatz des Rückens sowie durch eine weitere Figur, die verblüffender und beängstigender war. Die Zeichnung war unvollständig, nur Unterkörper und Beine, die menschlich aussahen, mit drei Linien, die entweder in seinen Rücken hineingingen oder aus ihm herauskamen. Sollten das Speere sein? Wollte jemand andeuten, dass ein Mensch mit Speeren gejagt worden war? Aber warum sollte man so etwas auf einer Wand anbringen? Ayla versuchte sich zu erinnern, ob sie jemals gesehen hatte, dass ein von Speeren getroffenes Tier dargestellt worden war. Oder sollte es etwas anderes bedeuten, etwas, das aus dem Körper kommt? Der untere Rücken war nicht das naheliegendste Ziel, wenn man etwas erlegen wollte. Ein Speer im Gesäß oder auch nur im Kreuz war nicht unbedingt tödlich. Vielleicht sollte es Schmerzen darstellen, Rückenschmerzen, die so wehtaten wie ein Speer.
Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte noch so viel rätseln, es brachte sie der eigentlichen Erklärung nicht näher. »Was haben all die Linien in der Gestalt zu bedeuten?«, fragte sie den jungen Zelandoni und zeigte auf
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