Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
Als sie zum Lagerplatz kamen, fanden weitere Vorstellungen statt, und zunächst zögerte man wegen der Tiere,
doch dann sah Ginedora einen Jungen, der aussah, als hätte
sie ihn zur Welt gebracht. Sie schaute ihre Tochter fragend
an. Beladora nahm ihren Sohn an die Hand, dann ihre
blonde, blauäugige Tochter.
»Kommt und lernt eure Großmutter kennen«, sagte sie. »Du hast zwei Zugleichgeborene? Und beide sind ge
sund?«, fragte sie. Beladora nickte. »Das ist wunderbar!« »Das ist Gioneran.« Die junge Mutter hielt die Hand des
fünfjährigen Jungen mit dem dunkelbraunen Haar und den
braungrünen Augen seiner Mutter hoch.
»Er wird groß werden, wie Kimeran«, meinte Ginedora. »Und das hier ist Ginadela.« Beladora hielt die Hand ihrer blonden Tochter hoch.
»Sie hat die gleiche Gesichtsfarbe wie Kimeran, und sie ist
eine Schönheit«, staunte die Frau. »Sind sie schüchtern?
Ob sie mich umarmen?«
»Geht und begrüßt eure Großmutter. Wir sind einen langen Weg gegangen, um sie zu sehen.« Beiadora schob die
beiden vor. Die Frau sank auf die Knie und breitete die Arme aus. Ihre Augen glänzten. Nach kurzem Zögern umarmten die Kinder sie flüchtig. Sie nahm eins in jeden Arm,
und eine Träne lief ihr über die Wange.
»Ich wusste nicht, dass ich Enkel habe. Das ist das Problem, weil du so weit weg lebst«, sagte Ginedora. »Wie lange bleibst du hier?«
»Das wissen wir noch nicht.«
»Kommt ihr zu unserer Höhle?«, fragte Ginedora. »Das hatten wir vor.«
»Ihr müsst länger als nur auf einen kurzen Besuch bleiben. Ihr seid so weit gereist, kommt mit uns und bleibt ein
Jahr«, schlug die Frau vor.
»Darüber müssen wir nachdenken«, sagte Beladora. »Kimeran ist der Anführer unserer Höhle. Ihm würde es
schwerfallen, ein Jahr fortzubleiben.« Als ihrer Mutter wieder Tränen in die Augen traten, fügte sie hinzu: »Wir werden es uns aber überlegen.«
Ayla schaute sich unter den anderen um, die dabei waren,
ihr Lager aufzuschlagen. Ihr fiel ein Mann auf, der jemanden auf den Schultern trug. Er bückte sich und half der Person herunter. Zunächst dachte sie, es sei ein Kind, dann schaute sie noch einmal hin. Die Person war klein, aber von eigenartiger Gestalt, Arme und Beine waren zu kurz. Sie stieß die Erste an und deutete mit dem Kinn in die Rich
tung.
Die füllige Frau schaute flüchtig hin, dann genauer. Sie
hatte zwar noch nie einen Kleinwüchsigen gesehen, hatte
aber schon von ähnlichen kleinen Menschen gehört. »Diese
Person hat einen Geburtsfehler. Ähnlich wie bei Zwergbäumen, deren Wachstum verzögert wird, glaube ich, dass das
ein Zwergenmensch ist.«
»Ich würde den Menschen gern kennenlernen, um mehr
zu erfahren, aber ich will nicht zu viel Aufhebens darum
machen. Ich glaube, er sorgt schon oft genug für Aufsehen«, sagte Ayla.
A yla war in aller Früh aufgestanden und hatte ihre Sammelkörbe und die Packkörbe für Winnie zusammengesucht. Sie sagte Jondalar, sie wolle nach Pflanzen, Wurzeln und allem suchen, was sie für das Festmahl am Abend finden könne, doch sie wirkte zerstreut, und ihr war offenbar unbehaglich zumute.
»Soll ich lieber mitkommen?«, fragte er. »Nein!« Ihre Antwort kam schärfer als beabsichtigt. »Ich hatte gehofft, dass du auf Jonayla aufpassen würdest«, fuhr sie versöhnlicher fort. »Beladora nimmt heute Morgen ihre Kinder mit zu ihrer Mutter. Jondecam und Levela gehen auch und nehmen Jonlevan mit, weil sie alle verwandt sind. Was Kimeran macht, weiß ich nicht, aber ich glaube, er gesellt sich später zu ihnen. Jonayla gehört für sie fast zur Familie, aber sie ist eigentlich nur eine Freundin und kommt sich womöglich alleingelassen vor, weil sie ihre üblichen Freunde nicht zum Spielen hat. Ich dachte, ihr könntet heute Morgen vielleicht mit Renner und Grau ausreiten.«
»Gute Idee, wir sind schon eine Weile nicht mehr ausgeritten. Die Bewegung wird den Pferden guttun.« Ayla lächelte Jondalar an und rieb ihre Wange an der seinen, sah aber immer noch beunruhigt und ein wenig bekümmert aus.
Als Ayla aufbrach, war es noch nicht ganz hell. Sie stieg auf Winnie, pfiff Wolf zu sich, ritt am Flussufer entlang und ließ den Blick schweifen. Sie wusste, dass die Pflanzen, nach denen sie suchte, in der Nähe ihres vorherigen Lagerplatzes wuchsen, hoffte jedoch, nicht ganz so weit reiten zu müssen. Sie kam an den menschenleeren Wohnplätzen der Dritten Höhle vorbei. Alle Bewohner waren bei dem Treffen, das spontan bei der Ersten Höhle zustande gekommen
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