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Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen

Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen

Titel: Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean M. Auel
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dem Horizont und verwandelte sich in einen rotglühenden Kreis. Die Sonne war ein ebenso vollkommenes Rund wie ihr nächtlicher Gefährte, wenn sein Gesicht voll war - die einzigen perfekten Kreise, die Ayla kannte. Durch den Dunst war die Sonne besser zu sehen, und so fiel es Ayla auch leichter, die genaue Stelle zu bestimmen, an der sie hinter den Konturen der Hügel am fernen Horizont unterging. Im schwindenden Licht ritzte sie eine Kerbe in ihre Geweihschaufel.
    Sie wandte sich um und blickte über den Hauptfluss hinweg nach Osten. Dort standen am dunkler werdenden Himmel bereits die ersten Sterne. Bald würde der Mond sein Gesicht zeigen, obwohl er manchmal auch aufging, noch bevor die Sonne ganz hinter dem Horizont verschwunden war, und bisweilen zeigte er sein blasses Gesicht auch tagsüber an einem klaren blauen Himmel. Ayla beobachtete das Auf- und Untergehen von Sonne und Mond nun seit fast einem Jahr, und sosehr es ihr auch missfiel, in dieser Zeit von Jondalar und Jonayla getrennt zu sein, faszinierte sie doch das Wissen, das sie dabei gewann. An diesem Abend allerdings war sie rastlos. Sie wollte an ihren Wohnplatz, wollte neben Jondalar in ihre Felle kriechen, damit er sie hielt, sie berührte und ihr das Gefühl bereitete, das nur er in ihr hervorrufen konnte. Sie stand auf und setzte sich wieder, versuchte, eine bequemere Haltung zu finden und sich auf ihre lange, einsame Nacht einzustimmen.
    Zum Zeitvertreib und um wach zu bleiben, wiederholte sie leise einige der vielen Lieder und der häufig gereimten langen Überlieferungen und Legenden, die sie auswendig lernen musste. Obwohl sie ein herausragendes Gedächtnis hatte, war es doch eine Menge an Wissen, das sie aufnehmen musste. Da sie mit ihrer Stimme keine Melodie halten konnte, versuchte sie gar nicht erst, die Lieder zu singen, wie viele der Zelandonia es taten, aber Zelandoni hatte ihr gesagt, Singen sei nicht notwendig, solange Ayla die Worte und ihre Bedeutung kenne. Dem Wolf schien es zu gefallen, sie in rhythmischer Monotonie summen zu hören, wenn er neben ihr döste, aber an diesem Abend war nicht einmal Wolf bei ihr.
    Sie beschloss, eine der Überlieferungen aufzusagen, die von der Vorzeit berichtete und ihr besonders schwerfiel. Diese uralte Geschichte enthielt frühe Hinweise auf die Wesen, die von den Zelandonii Flachschädel genannt wurden und die Ayla als Clan bezeichnete. Doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. In der Geschichte kamen lauter Namen vor, die sie nicht kannte, Ereignisse, die ihr nichts bedeuteten, Ideen, die sie nicht ganz verstand oder die sie nicht billigen konnte. Immer wieder musste sie an ihre eigenen Erinnerungen denken, ihre eigene Geschichte, ihre ersten Lebensjahre beim Clan. Vielleicht sollte sie es doch mit einer Legende probieren. Die waren einfacher. Sie schilderten oft lustige oder traurige Geschichten, die Sitten und Gebräuche erklärten und anschaulich vor Augen führten.
    Sie vernahm ein leises Hecheln und drehte sich um. Wolf trabte den Pfad hinauf, sprang auf sie zu und war sichtlich erfreut, sie zu sehen. Ihr ging es genauso. »Ich grüße dich, Wolf«, sagte sie, fuhr ihm durchs dichte Nackenfell, umfasste lächelnd seinen Kopf und sah ihm in die Augen. »Ich bin so froh, dich zu sehen. Heute Abend habe ich Lust auf Gesellschaft.« Er leckte ihr das Gesicht und nahm dann sacht ihr Kinn ins Maul. Als er sie losließ, nahm sie seine pelzige Schnauze ebenfalls kurz zwischen die Zähne. »Ich glaube, du freust dich auch, mich zu sehen. Jondalar und Jonayla müssen zurück sein, und Jonayla schläft wahrscheinlich schon. Es beruhigt mich sehr, dass du dich um sie kümmerst, wenn ich nicht da bin.«
    Er ließ sich zu ihren Füßen nieder, und sie wickelte sich fest in ihren Umhang, lehnte sich an die Säule und wartete, dass der Mond aufging. Dabei versuchte sie, sich auf die Legende über einen der Vorfahren der Zelandonii zu konzentrieren, doch dann fiel ihr der Tag ihrer Heimreise ein, an dem sie Wolf beinahe verloren hätten. Bei der gefährlichen Überquerung eines reißenden Flusses waren sie von ihm getrennt worden. Ayla wusste noch genau, wie sie nach ihm gesucht hatte, frierend und durchnässt und außer sich vor Angst, er könnte für immer verschwunden bleiben. Als sie ihn schließlich fand, war ihre Angst nicht geringer. Wie tot hatte er dagelegen. Jondalar hatte sie beide entdeckt, und obwohl auch er fror und durchnässt war, hatte er alles Notwendige getan. Sie war zu erschöpft

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