Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
gewesen, um auch nur einen Finger zu rühren. Und so hatte er einen Unterschlupf errichtet, sie und den bewusstlosen Wolf hineingetragen, die Pferde versorgt, sich um alle gekümmert.
Sie zwang ihre Gedanken wieder in die Gegenwart zurück; sie sehnte sich nach Jondalar. Vielleicht die Zählwörter, dachte sie. Sie begann, sie aufzusagen: »Eins, zwei, drei, vier«, und erinnerte sich, wie begeistert sie gewesen war, als Jondalar sie ihr erklärt hatte. Ayla hatte das abstrakte Konzept sofort verstanden und alles gezählt, was sie in ihrer Höhle sehen konnte: Sie hatte einen Schlafplatz, eins, zwei, drei Pferde, eins, zwei ... Jondalars Augen sind so blau!
Ich muss damit aufhören, dachte sie. Ayla stand auf und ging zu der Basaltsäule, die sich in gefährlichem Winkel über den Abgrund neigte. Als im vergangenen Sommer mehrere Männer versucht hatten, die Säule umzustoßen aus Angst, sie könnte tatsächlich eine Bedrohung darstellen, hatte sie sich nicht bewegen lassen. Genau diese Basaltsäule, die sich unverkennbar vor dem Himmel abhob, hatte Ayla an dem Tag, als sie und Jondalar hier angekommen waren, von unten erblickt. Vage erinnerte sie sich, sie schon einmal in einem Traum gesehen zu haben.
Wenige Fingerbreit über dem Boden legte sie eine Hand auf den gewaltigen Stein und zuckte gleich darauf zurück. Dort, wo sie ihn berührt hatte, prickelte ihre Haut. Als sie den Felsen im schwachen Mondlicht betrachtete, kam es ihr vor, als hätte er sich bewegt und neigte sich noch schräger über den Rand. Und glühte er nicht auch? Ohne ihn aus den Augen zu lassen, trat Ayla einige Schritte zurück. Das muss ich mir einbilden. Sie schloss die Augen, schüttelte den Kopf und schlug sie wieder auf. Der Stein sah aus wie jeder andere Stein. Sie berührte ihn erneut. Zunächst fühlte er sich an wie Fels. Doch dann glaubte sie wieder dieses Prickeln zu spüren.
»Wolf, diese Nacht muss der Himmel wohl ohne mich auskommen«, sagte sie. »Jetzt sehe ich schon Dinge, die nicht da sind. Und schau! Der Mond ist aufgegangen, und ich habe es gar nicht bemerkt. Ich bin heute Nacht hier fehl am Platz.«
Kurz überlegte sie, eine Fackel zu entzünden, beschloss dann aber, keine Zeit darauf zu verschwenden. Mond und Sterne schienen hell genug. Vorsichtig ging sie in deren Licht den Pfad hinab, Wolf wies ihr den Weg. Als sie einen Blick zur Basaltsäule zurückwarf, schien sie immer noch zu glühen. Vielleicht habe ich zu lange in die Sonne geblickt, dachte sie. Zelandoni hat mich doch gewarnt, ich solle vorsichtig sein.
In der Höhle war es wesentlich dunkler, doch der Widerschein des großen Gemeinschaftsfeuers, das am Abend entzündet worden war und noch glühte, gab genügend Licht ab. Leise betrat Ayla ihren Wohnplatz. Offenbar schliefen alle, nur eine kleine Lampe brannte schwach. Die entzündeten sie oft für Jonayla, die in völliger Dunkelheit länger zum Einschlafen brauchte. Der aus Flechten bestehende Docht, der im zerlassenen Talg schwamm, brannte relativ lange und hatte Ayla schon oft gute Dienste geleistet, wenn sie spät zurückkam. Sie blickte über die Trennwand in den Bereich, in dem Jondalar schlief. Jonayla war wieder zu ihm gekrochen. Ayla lächelte liebevoll und wollte schon zu Jonaylas Schlafstatt gehen, um die beiden nicht zu stören, blieb dann aber kopfschüttelnd stehen und suchte ihren gemeinsamen Schlafplatz auf.
»Bist du das, Ayla?«, fragte Jondalar schlaftrunken. »Ist es schon Morgen?«
»Nein, Jondalar, ich bin heute früher zurückgekommen.« Ayla hob die Kleine hoch und legte sie auf ihre eigene Schlafstatt, deckte sie gut zu und küsste sie auf die Wange. Dann kehrte Ayla zu Jondalar zurück. Er war inzwischen richtig wach und erwartete sie, auf einen Ellbogen aufgestützt.
»Warum bist du so früh zurückgekommen?«
»Irgendwie konnte ich mich nicht richtig konzentrieren.« Mit einem verführerischen Lächeln zog sie sich aus und kroch zu ihm. Die Stelle war noch warm von ihrer schlafenden Tochter. »Weißt du noch, dass du mir einmal sagtest, wenn ich dich wollte, brauchte ich nur das zu tun?«, fragte sie und gab ihm einen langen, innigen Kuss.
Das verfehlte seine Wirkung nicht. »Das stimmt immer noch.« Seine Stimme war belegt vor Verlangen. Auch für ihn waren die Nächte lang und einsam gewesen. Jonayla war niedlich und anschmiegsam, und er liebte sie sehr, aber sie war ein kleines Mädchen, die Tochter seiner Gefährtin, nicht seine Gefährtin selbst. Nicht die Frau, die seine
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