Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
Jagdtalisman des Clans, das rot gefärbte Stück Mammut-Elfenbein, wurde ihr gegeben zum Zeichen, dass sie, obgleich eine Frau, als Jägerin des Clans galt, auch wenn sie lediglich mit der Steinschleuder jagen durfte.
Sie trug den Talisman nicht mehr am Körper, ebenso wenig wie das Amulett mit ihren anderen Zeichen, obwohl sie sich in diesem Moment wünschte, sie hätte sie bei sich. Doch sie lagen alle versteckt hinter der geschnitzten DoniiFigur in der Nische, die aus der Kalksteinwand ihrer Unterkunft in der Neunten Höhle gehauen worden war. Allerdings hatte sie die Narbe.
Ayla berührte sie, dann die Narbe an ihrem Arm. Das Zeichen hatte Talut gemacht, und mit dem noch blutigen Messer hatte er eine Kerbe in die Elfenbeinscheibe geritzt, die er an einer außergewöhnlich schönen Kette aus Bernstein und den Reißzähnen und Klauen von Höhlenlöwen trug, zum Zeichen, dass Ayla in den Löwenclan aufgenommen und von den Mamutoi adoptiert worden war.
Sie hatte nie darum gebeten, war immer erwählt worden, und jedes Mal hatte sie ein Zeichen bekommen, eine Narbe, die unvergänglich war. Dieses Opfer hatte sie bringen müssen. Jetzt wurde sie wieder erwählt. Noch konnte sie ablehnen, und wenn sie das nicht tat, übernahm sie diese Verpflichtung für den Rest ihres Lebens. Flüchtig kam ihr in den Sinn, dass die Narben sie unweigerlich daran erinnern würden, welche Folgen es hatte, erwählt zu werden, welche Verantwortung mit ihrer Einwilligung einherging.
Sie sah der Ersten in die Augen. »Ich nehme an. Ich bin bereit, eine Zelandoni zu sein.« Ayla bemühte sich, entschlossen zu klingen.
Dann schloss sie die Augen und spürte, dass jemand hinter den Hocker trat, auf dem sie saß. Zwei Hände zogen sie sanft, aber unerbittlich nach hinten, bis sie am weichen Körper einer Frau ruhte, die dann ihren Kopf so drehte, dass die rechte Schläfe nach oben zeigte. Ayla wurde die Stirn mit etwas Weichem, Feuchtem abgewischt, dem Geruch nach zu urteilen Iriswurzel, eine Lösung, die sie oft zum Säubern von Wunden verwendete. Eine nervöse Spannung stieg in ihr auf.
»Au!«, rief Ayla unwillkürlich, als sie den kurzen Schnitt der scharfen Schneide spürte. Beim zweiten und dritten Schnitt jedoch gelang es ihr, den Aufschrei zu unterdrücken.
Dann wurde die Lösung wieder aufgetragen, die Schnitte wurden abgetrocknet und mit einer Salbe behandelt. Sie brannte, aber nicht sehr lange, offenbar enthielt sie etwas Betäubendes.
»Ayla, jetzt kannst du die Augen öffnen. Es ist vorbei«, sagte die Erste.
Ayla folgte der Aufforderung und sah ein ziemlich verschwommenes, unvertrautes Bild vor sich. Es dauerte einen Moment, bis ihr klarwurde, was sie da betrachtete: Man hielt einen Abglanz vor sie sowie eine brennende Lampe, damit sie sich in dem geölten, mit Sand geglätteten und schwarz gefärbten Holzstück sehen konnte. Sie verwendete nur selten einen Abglanz, besaß selbst gar keinen, und es überraschte sie immer wieder, ihr eigenes Gesicht zu sehen. Dann wanderte ihr Blick zu den Zeichen auf ihrer Stirn.
Direkt vor der rechten Schläfe befand sich eine kurze waagerechte Linie, an deren Enden zwei etwa gleich lange Linien senkrecht aufragten und so ein nach oben offenes Viereck bildeten. Die drei Linien waren schwarz und bluteten noch leicht an den Rändern. Und sie waren so auffällig, dass sie alles andere auszublenden schienen. Ayla wusste nicht, ob es ihr gefiel, dass ihr Gesicht derart entstellt war. Aber jetzt war es zu spät. Es war getan. Dieses schwarze Zeichen würde sie für den Rest ihres Lebens tragen.
Sie hob die Hand, um die Stelle zu befühlen, aber die Erste hielt sie davon ab. »Es wäre besser, wenn du es noch nicht berührst. Es blutet zwar kaum mehr, aber es ist noch ganz frisch.«
Ayla blickte in die Runde der restlichen Zelandonia. Alle hatten unterschiedliche Zeichen an der Schläfe, wobei einige kunstvoller als andere wirkten. Die meisten waren quadratisch, obwohl es auch andere Formen gab, und viele waren farbig ausgefüllt. Die Zeichen der Ersten waren die komplexesten von allen. Ayla wusste, dass sie den Rang und die Zugehörigkeiten der Zelandoni anzeigten, und sie sah, dass die schwarzen Linien nach dem Abheilen zu blauen Tätowierungen verblassten.
Sie war froh, als der Abglanz weggenommen wurde. Sie sah sich nicht gern selbst an. Die Vorstellung, dass das fremde, verschwommene Abbild eines Gesichts, das sie dort sah, ihr gehörte, war ihr unangenehm. Sie sah sich lieber in den Mienen der
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