Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
ich wohl auch tun sollen. Aber so gerne ich die Pferde mag, die Vorstellung, auf einem zu reiten, macht mir Angst. Ich weiß nicht, wie man Pferde lenkt. Bei jungen Männern ist es leichter. Man sagt ihnen einfach, was man will und wann sie stehen bleiben sollen.«
Folara umarmte die Gefährtin ihres Bruders. »Danke, Ayla. Das kann wirklich nur eine Frau verstehen. Ich habe mir so gewünscht, Mutter wäre hier, aber ich wusste nicht, ob es ihr gut genug geht, denn zu Fuß konnte sie den Weg wirklich nicht zurücklegen.« Sie wandte sich wieder an Marthona. »Wie geht es dir?«
»Ayla hat sich wunderbar um mich gekümmert, als sie in der Neunten Höhle zurückblieb, und es geht mir viel besser als im Frühling«, sagte die ältere Frau. »Sie ist eine ausgezeichnete Heilerin, und wenn man genauer hinsieht, weiß man, dass sie jetzt auch eine Zelandoni ist.«
Also hat Marthona das Zeichen an meiner Schläfe bemerkt, dachte Ayla. Die Schnitte heilten bereits und schmerzten nicht mehr, obwohl sie bisweilen juckten. Aber wenn jemand sie nicht gerade darauf ansprach oder unentwegt hinstarrte, dachte sie überhaupt nicht mehr daran.
»Das weiß ich, Mutter«, sagte Folara. »Das wissen alle, auch wenn es noch nicht verkündet worden ist. Aber wie alle anderen Zelandonia hat Ayla in den letzten Tagen derart viel zu tun, dass ich sie kaum zu Gesicht bekommen habe. Sie planen irgendeine Zeremonie, aber ich weiß nicht, ob sie vor oder nach den zweiten Hochzeitsriten stattfinden soll.«
»Vorher«, sagte Ayla. »Du hast genug Zeit, um mit deiner
Mutter zu reden und zu planen.«
»Dann ist es dir wirklich ernst mit jemandem?«, fragte
Marthona. Einen Moment lang verstummte sie und überlegte, dann fuhr sie fort: »Nun, wo ist dieser junge Mann?
Ich würde ihn gerne kennenlernen.«
»Er wartet draußen«, sagte Folara. »Ich hole ihn.« »Lass mich hinausgehen und ihn dort treffen«, sagte Marthona. In dem Sommerzelt war es dunkel. Das einzige Licht
fiel durch den Eingang herein, dessen Verdeckplane zurückgebunden war, sowie durch den Rauchabzug in der
Mitte des Dachs, das bei schönem Wetter den ganzen Tag
offen stand. Marthona sah nicht mehr so gut wie früher und
wollte diesen jungen Mann so gründlich wie möglich in Augenschein nehmen.
Als sie mit Folara und Ayla vor das Zelt trat, sah Marthona drei ihr unbekannte junge Männer, die fremdartige Kleidung trugen; einer von ihnen war ein wahrer Riese mit
leuchtend roten Haaren. Als Folara direkt auf ihn zuging,
stockte Marthona ein wenig der Atem. Sie hatte gehofft, ihre Tochter würde nicht gerade ihn wählen. Sicher war er kein schlechter Mensch, ganz und gar nicht, er entsprach nur nicht Marthonas Sinn für gutes Aussehen, obwohl ihre Meinung dazu sowieso keine Rolle spielte. Sie hatte einfach immer gehofft, Folara würde einen Mann wählen, der gut zu ihr passte, damit die beiden sich ergänzten, und neben einem derart hochgewachsenen Mann würde ihre große, elegante Tochter klein wirken. Folara begann mit der Vor
stellung.
»Danug und Druwez von den Mamutoi gehören zu Aylas
Sippe. Sie haben einen weiten Weg zurückgelegt, um sie zu
besuchen. Unterwegs haben sie einen anderen Mann kennengelernt und ihn aufgefordert, sie zu begleiten. Mutter,
bitte begrüße Aldanor von den S'Armunai.«
Ayla verfolgte, wie der junge Mann mit den dunklen, ansprechenden Zügen der S'Armunai vortrat. »Aldanor, das
ist meine Mutter Marthona, frühere Anführerin der Neunten Höhle der Zelandonii, verbunden mit Willamar, Handelsmeister ...«
Erleichtert atmete Marthona aus, als Folara begann, sie
förmlich mit Aldanor bekanntzumachen und nicht mit dem
rothaarigen jungen Riesen.
»Im Namen der Großen Erdmutter heiße ich dich willkommen, Aldanor von den S'Armunai«, sagte Marthona. »Im Namen von Muna, der Großen Mutter der Erde, ihrem Sohn Luma, dem Überbringer von Wärme und Licht,
und ihrem Gefährten Bala, dem Hüter des Himmels, grüße
ich dich«, erwiderte Aldanor und hielt die Unterarme hoch,
die Handflächen ihr zugewandt. Dann besann er sich und
veränderte die Geste, streckte die Arme mit den Handflä
chen nach oben aus zum förmlichen Gruß der Zelandonii. Sowohl Marthona als auch Ayla war klar, dass er die Begrüßung der S'Armunai auf Zelandonii eingeübt haben
musste, und sie waren beide beeindruckt. In Marthonas
Augen sprach es für den jungen Mann, dass er sich diese
Mühe gemacht hatte, und sie musste zugeben, er sah tatsächlich gut aus. Sie konnte verstehen, dass
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