ebenso wie zur Produktivität der Organisation bei. Besonders nachhaltig ist der Einfluß des Mediums im Bereich privater Beziehungen, fördert es doch mit seiner Sexualisierung und Aggressionsgeladenheit durch entsprechende Sendungen eine täglich mehrstündige Verhaltensmodellierung, die man geradezu als eine Charaktererziehung zum Histrio bezeichnen kann. Zudem bietet es die Möglichkeit ständiger oraler Regression von den deprimierenden Alltagserfahrungen und vor allem ein schier unerschöpfliches Repertoire von Bezugspersonen an, die der Histrio zu parasozialen Bindungen schmiedet.
Insgesamt hat das Fernsehen mittlerweile einen Einfluß gewonnen, den man nur noch mit dem von Religionen vor der Aufklärung vergleichen kann. Es ist wenigstens in den westlichen Gesellschaften inzwischen eine invisible religion, eine nur wenig demokratisch legitimierte und gesellschaftlich kontrollierte Diesseitigkeitsreligion geworden (Luckmann, 1991). Keine andere Institution bringt so viele Menschen dazu, zur gleichen Zeit dasselbe zu tun, wie das Fernsehen, keiner anderen Institution zahlen so viele Menschen in Deutschland freiwillig monatlich einen so hohen Beitrag. Wie eine Religion schafft das Fernsehen Riten für regelmäßig wiederkehrende oder besonders herausragende Situationen, der tägliche Abendgottesdienst ist etwa die Tagesschau, Katastrophen werden mit Brennpunkten bewältigt. Es sagt, was gut und was böse ist. Fernsehen verspricht kompensatorischen Ausgleich etwa in Form bescheidener Prominenz für Leidende und Strafen für die Sünder, seien es betrügerische Handwerker, flüchtige Verbrecher oder kriminelle Politiker. Es entwirft Paradiesvorstellungen mit seinen Sendungen über Traumschiffe, – Urlaube und -hochzeiten. Es fordert zur Mildtätigkeit auf und ist dabei so erfolgreich wie keine andere Institution. Es hat in den Moderatoren und Stars auch seine Priester wie in den verstorbenen TV-Größen seine bis heute verehrten Heiligen. Und es schenkt Menschen Entlastung von den Bedrückungen des Alltags, manchmal sogar Glück und Reichtum, kann schlimmstenfalls aber auch ihr Leben vernichten.
Ob es sich also um die Gefühle, um das Denken oder um das Verhalten der Menschen handelt – für alles liefert das Fernsehen die Maßstäbe. Die Gesamtheit dieser Charakterzüge kann man mit Fug und Recht als »heimliches Normalitätsmodell« bezeichnen. Dieses Modell übernehmen die Zuschauer, teilweise oder ganz, der Histrio wird zum dominierenden Typus unserer Zeit. Dies ist die eine Seite; die andere ist: Die »invisible religion« Fernsehen bietet ihm immer und überall auch das, was er im Leben so schmerzlich vermißt: unendliche Bindungssicherheit.
15. Was tun? – Medienkompetenz und Bindungssicherheit
Wie geht das alles weiter?
Für die Familie beschreibt das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (o. J., S. 6) die Lage so: »Familiengründungen werden aufgeschoben; Kinderwünsche werden nicht realisiert; Trennungs- und Scheidungsquoten erhöhen sich; Hilfeleistungen zwischen den Generationen ... verringern sich; psychosoziale Störungen nehmen zu; gravierende Gesundheitsprobleme und frühe Erwerbsunfähigkeit stellen sich häufiger und früher ein.« Aus der Solidargemeinschaft wird eine Versichertengesellschaft: Jeder kommt für sich und seine Risiken selbst auf.
Im Arbeitsbereich ist es nicht viel besser. Hier hat sich trotz aller »Unser-wichtigstes-Kapital-ist-der-Mitarbeiter«-Slogans inzwischen auch bei den älteren Arbeitnehmern die Erfahrung durchgesetzt, daß sie in Zeiten der »Shareholder-value«-Orientierung von Unternehmen lediglich ein immer wieder neu zu kalkulierender Kostenfaktor sind. Die jüngeren Ich-AGs hat eine emotionale Bindung zu einer Organisation sowieso nicht sonderlich interessiert, deren Verhältnis zu ihrem jeweiligen Arbeitgeber ist von Anfang an kühler und instrumenteller. Das alles führt zu einer begrenzten Loyalität gegenüber dem Unternehmen, zunehmend auch zu kontraproduktivem Verhalten wie Leistungsverweigerung, innerer und äußerer Kündigung bis hin zu Diebstahl und Sabotage.
Auch die Perspektiven für das politische Engagement sind trist: Beispielsweise zeigten Untersuchungen aus den USA, daß sich Kinder und Jugendliche kaum noch für politische Nachrichten interessieren, sie entwickeln zudem eine Art cynical chic (Buckingham, 2000, S. 203) gegenüber Politikern, die sie als langweilig, korrupt und egoistisch ansehen. Nach der oben
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