zum Histrio auf: Sein Denken, so hatten wir oben resümiert, ist egozentrisch, oberflächlich, intuitiv, wenig strukturiert und impressionistisch. Dadurch fehlt ihm häufig ein systematisches und strukturiertes Faktenwissen. Er kann sich nicht lange konzentrieren und lebt stark im Hier-und-Jetzt. Auch neigt er zu einer seine Alltagsvorstellungen prägenden, romantisierenden Weltsicht und zu entsprechenden Idealisierungen. Schließlich ist er leicht beeindruck- und beeinflußbar. Dem kommt das Fernsehen in idealer Weise entgegen. Es ist in großen Teilen oberflächlich, intuitiv und impressionistisch. Es vermittelt kein strukturiertes Faktenwissen. Es verlangt keine lange Konzentration, sondern nur immer wieder eine Orientierungsreaktion auf das soeben Gezeigte. Es vermittelt (in Teilen) romantisierende Weltsichten, jedenfalls aber die Möglichkeit zur Idealisierung. Es will beeindrucken und beeinflussen. Wir stellen also fest, daß das Fernsehen auch hinsichtlich des Denkens ein histrionisches Medium ist – und ebendiese Art zu denken bei den Zuschauern fördert.
11. Handeln – Lernen am Modell
Am 15. November 1995 geht der 17jährige Jamie Rouse durch die Eingangshalle der Richland School, eine 22er Remington Viper im Gürtel. In der Halle stehen zwei Lehrerinnen, in ein Pausengespräch vertieft. Der Teenager nähert sich ihnen, zieht die Pistole – und schießt beiden in den Kopf. Einige Momente später kreuzt eine 16jährige Schülerin seinen Weg, ihr schießt der Junge in den Hals. Das Mädchen und eine der beiden Lehrerinnen sterben, die andere überlebt schwerverletzt.
Das ist nur ein Beispiel von rund zwanzig school massacres in den USA, bei denen Schüler andere Schüler, Lehrer und schließlich (oft) sich selbst in einer Orgie der Gewalt umbringen. Am bekanntesten wurde das »Columbine High School massacre« mit 15 Toten (darunter die beiden Täter) und 23 Verletzten durch den Film Bowling for Columbine. In Deutschland erlangte das Gutenberg-Gymnasium in Erfurt durch den Amokläufer Robert Steinhäuser traurige Berühmtheit – dort wurden 16 Menschen erschossen, bevor der Schütze sich selbst tötete.
»Der Markt ist nach unten gegangen, und ich hoffe, daß das euren Tag nicht ruiniert.« Nach diesen Worten zog der 44jährige Apotheker Mark Barton zwei Pistolen und feuerte auf die Angestellten einer Firma in Atlanta, bei der er kurz zuvor noch selbst als »Daytrader« an der Börse spekuliert hatte. Dabei hatte er sein gesamtes Vermögen verloren. Vier seiner Opfer waren sofort tot. Danach erschoß er in den Räumen einer anderen Daytradingfirma weitere fünf Angestellte. Zuvor hatte er in einem wenige Kilometer entfernten Ort seine Frau und seine beiden Kinder ermordet (vgl. Kreissl, 1999).
Ereignisse dieser Art werden in den USA als rampage killing bezeichnet, gemeint sind damit Verbrechen, die gezielt auf öffentlichen Plätzen begangen werden, bei denen mehrere Menschen verwundet werden und die zum Tod von mindestens einer Person führen. Die New York Times veröffentlicht im April 2000 eine Artikelserie über einhundert solcher Verbrechen aus den letzten fünfzig Jahren (vgl. Fessenden, 2000), dabei zeigt sich seit Beginn der 90er Jahre eine steigende Tendenz von bisher rund 20 solcher Verbrechen jährlich auf inzwischen rund 30. Die Täter sind meist Weiße, oft arbeitslos, viele von ihnen haben Collegeabschluß, manche waren lange beim Militär. Keiner war betrunken oder unter Drogeneinfluß, keiner versuchte zu flüchten. Die Hälfte von ihnen wandte am Schluß die Waffe gegen sich selbst: »Sie wollen nicht nur töten, sie wollen auch getötet werden« (Fessenden, 2000, S. 1; eigene Übersetzung).
Natürlich ist es immer und für alle traurig, wenn ein Mensch sterben will, weist es doch und besonders bei jungen Menschen in den meisten Fällen auf ein Versagen seines sozialen Umfeldes hin. Aber wenn es denn schon einmal so weit gekommen ist, warum wollen die Betroffenen dann nicht im Stillen sterben? Warum muß es der brutal inszenierte öffentliche Auftritt in der eigenen Schule oder Firma sein? Die starke Bedeutung des Auftritts als Rächer auf einer öffentlichen Bühne weist erneut auf den Histrio hin. Die Täter dramatisieren die eigene Person in höchster Konsequenz, sie agieren ihre Gefühle mit tödlicher Wirkung aus, stehen für kurze Zeit im Mittelpunkt des Interesses von Opfern, Behörden und – vor allem – Medien. Öffentliche Beachtung ist das Ziel des »rampage
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