daß Noelle Zeit finden würde, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Die Kinder waren zu diesem Zeitpunkt nicht zugegen, und Noelle nahm das Angebot ohne Zögern an. Judith hatte schrecklich geweint und war bereits im Bett. Agnew hatte von Sekunde zu Sekunde blasser und erwachsener ausgesehen.
Es gab Widerstand, als es Zeit war zu gehen, aber Kay handhabte das geschickt, und Ted Mullings machte das Angebot, sie in seinem leuchtend gelben Jaguar zu Kays Haus zu fahren. Agnew stieg als erster ein, doch Judith weigerte sich ungestüm, auch nur einen Schritt zu tun, sie mußte von Kay auf dem gesamten Fußmarsch vorwärtsgezerrt werden, während Agnew vor der Haustür wartete, da Ted Mullings sich auf den Rückweg nach Kent zu seiner Frau machen mußte.
Der Anwalt nahm eine Menge Arbeit mit nach Hause, zumal er einen so großen Teil des Tages seinem Büro ferngeblieben war, dann war Noelle allein im Haus. Sie hatte Kays Angebot abgelehnt, auch sie selbst für diese eine Nacht aufzunehmen. Sie mußte über vieles nachdenken, und das Alleinsein mochte es ihr erleichtern, obwohl sie alles andere als sicher war, daß dem wirklich so sein würde.
Es war Herbst, und sie warf die Fleischreste des Begräbnisessens ins Feuer. Melvin hatte immer darauf bestanden, möglichst viele Kaminfeuer anzufachen, und heute war nur eines entzündet worden. Noelle mußte Ciarice, der Haushaltshilfe, gewöhnlich auf die Finger schauen. Derartige unausbleibliche Übungen in Autorität mißfielen ihr außerordentlich.
Die Uhr ihres Vaters schlug sechs. Noelle kam es vor wie Mitternacht, aber zumindest blieb ihr eine angemessene Zeitspanne für all die Gedanken, die sie sich machen mußte, all das Unmögliche, das sie leisten mußte, ohne die rechte Erfahrung, ohne das nötige Temperament.
Sie hatte kaum die Kraft, sich noch eine Tasse Tee zu machen oder auch nur ein Verlangen danach zu verspüren. Sie nahm einen Bumerang in die Hand, den Melvin aus Darwin mitgebracht hatte. Melvin hatte angegeben, ihn einfach in einem Laden gekauft zu haben, aber es war ein besonderer Laden gewesen. Der Bumerang sei kein kommerziell produziertes Spielzeug, hatte er gesagt, sondern eine echte Waffe. Seither hatte er auf seinem Schreibtisch gelegen. Noelle faßte ihn wehmütig an. Das Haus war natürlich vollgestopft mit allen möglichen Dingen, die irgendwie veräußert werden mußten, und zwar möglichst mit Gewinn. Nicht einmal Melvins Lebensversicherung hatte sich als besonders geeignet erwiesen für die Umstände, die nun eingetreten waren. Noelle erkannte, daß sie unverzüglich mit dem Nachdenken beginnen mußte. Ihre Situation war um etliches besser als die zahlreicher anderer Witwen. Sie war sich dessen sehr wohl bewußt.
Doch da läutete es an der Tür.
Noelle sah nach der Uhr ihres Vaters. Es war noch nicht ganz zehn Minuten nach sechs. Ohne Zweifel hatte jemand etwas vergessen. Unwillkürlich dachte Noelle, daß sie selbst vergessen worden war. Sie errötete für einen Augenblick, dann gelang es ihr, die Tür zu öffnen.
Vor ihr stand der Mann aus dem Haus auf der anderen Seite des Waldes. Natürlich zeigte er keine Spur der Irritation mehr, in der Noelle ihn zuletzt gesehen hatte. Er starrte sie auch keineswegs mehr an. Diesmal trug er sogar einen Hut, den er allerdings abnahm, als sich die Tür öffnete. Er begann sofort zu sprechen.
»Ich habe mit großer Anteilnahme von Ihrem schweren Verlust gehört. Ich hielt es nicht für richtig, unaufgefordert zum Begräbnis zu erscheinen, aber ich möchte Ihnen sagen, daß ich Ihnen sehr gern in irgendeiner Form behilflich wäre. Ich glaube, man sollte eine solche Äußerung so früh wie möglich tun. Also sage ich es hiermit und sage auch, daß es mir damit wirklich Ernst ist. Vielleicht gestatten Sie mir, mich für Sie um die vielen Dinge zu kümmern, die jetzt auf sie zukommen müssen?«
»Es gibt in der Tat viel zu tun«, sagte Noelle. Sie spürte, daß sie von den Häusern auf der anderen Straßenseite aus, jenseits des ausgetretenen Zugangs zum Wald, beobachtet wurde.
»Vielleicht wäre es hilfreich, wenn wir unser Verhältnis zueinander im Licht der geänderten Umstände neu bestimmen könnten?« Noelle sah ihn zum ersten Mal an. »In Ordnung«, sagte sie. »Wenn Sie meinen. Kommen Sie bitte auf ein paar Minuten herein.«
Er folgte ihr hinein. Sie hatte das Gefühl, daß sie ihm seinen Hut abnehmen sollte, aber in einem modernen Haus gab es dafür keine spezielle
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