Schneise wäre just zu diesem Zeitpunkt eine neue Erfahrung zuviel gewesen. Die Schneise mochte ihr vergleichsweise neutral vorkommen, aber selbst in einem Vorstadtwald konnte die einbrechende Dunkelheit unerwartete Risiken mit sich bringen, wie der arme Melvin so oft betont hatte. Noelle war sicher, daß Melvin in derartigen Dingen oft recht gehabt hatte.
Tatsächlich hatte Noelle, während ihr diese Gedanken durch den Kopf gingen, die schwammige Moosfläche, die diesmal weniger den Eindruck erweckte, Blutegel und Süßwasserskorpione zu beherbergen, als vielmehr irgendwie bodenlos zu sein, schon fast wieder überquert. War John Morley-Wingfield womöglich einfach an einer besonders nachgiebigen Stelle versunken?
Sie schlug sich in die inzwischen fast vertrauten Büsche. Hier war das Geräusch des Regens unterdessen laut genug, um das entfernte Hämmern und Klopfen der Überstunden-Arbeiter zu ertränken.
Noelle vermochte einen Schrei nicht zu unterdrücken. Der Heckenrosenstrauch direkt vor ihr war immer noch rot von Blut bespritzt – ganz wie beim letzten Mal, als sie ihn gesehen hatte. Der Regen von Wochen und Monaten hatte nichts daran geändert.
Vorbei am verrottenden Abfall, den Abhang hinauf, das sanftere Gefälle zwischen den Silberbirken hinab, rannte Noelle nach Hause, durch ihre Stiefel behindert und mit halbgeschlossenen Augen. Sie war einigermaßen überrascht, daß sie ihr Zuhause überhaupt noch fand.
Doch sie ging nicht hinein – teils, weil auch der Mann bald dort sein konnte, teils, weil auch Melvin noch dort sein konnte (man sagt, daß es vierzig Tage dauert, bis sich die Toten endgültig verabschieden), teils und vielleicht in der Hauptsache aus anderen, tieferen Gründen.
Statt dessen ging sie zum Haus von Kay Steiner. Obwohl erschöpft von ihrem Lauf hügelan und hügelab, schritt sie zügig und unauffällig aus. Und war es nicht inzwischen zu dunkel, als daß die Nachbarn sie unter Fernsehverzicht noch hätten beobachten mögen?
»Ich habe es mir anders überlegt. Kann ich die Nacht über bei Ihnen bleiben?«
»Natürlich, meine Liebe. Ich hielt es sowieso für das beste. Ich habe Sie nur ungern in diesem düsteren Haus alleingelassen.«
»Ja, es war wirklich düster, nicht wahr?«
Kay Steiner sah Noelle an. »Nun ja«, erlaubte sie sich zu sagen, »unter den Umständen ...«
»Nein. Es war nicht nur das.«
»Wirklich? Wenn das so ist, ziehen Sie besser alle hier ein, bis Franklin zurückkommt.«
»Kay? Lieben Sie Franklin?«
»Natürlich liebe ich Franklin. Stellen Sie doch nicht so törichte Fragen. Und jetzt ziehen Sie Ihre Stiefel und die nassen Sachen aus. Diese schicken Regenmäntel sind einfach nicht dicht, nicht wahr? Ich leihe Ihnen ein paar Sachen, wenn Sie wollen. Wir haben dieselbe Größe. Vielleicht sollte ich Ihnen sagen, daß Judith ein wenig Fieber hat. Das kommt wohl daher, daß sie auf dem Weg hierher so widerborstig gewesen ist. Sie hat Essen und Trinken verweigert, und sie hat sehr geweint. Das ist natürlich kein Grund zur Sorge. Ich leihe Ihnen ein Thermometer, damit Sie die Nacht über selbst ihre Temperatur messen können.«
Noelle betrat das Eßzimmer in Kays Kleidern, die nicht so ausgesucht waren wie ihre eigenen, deshalb aber keineswegs weniger teuer oder weniger modisch.
Kay hatte den Tisch liebevoll gedeckt und blaßrote Kerzen angezündet, wie zu einem besonderen Anlaß.
Sie hantierte mit Eifer in der Küche. Die vielen Flächen waren übersät mit Lebensmitteln und Gerätschaften. Kay trug eine Schürze, die für British Airways warb. Das ›British Leyland‹-Kochbuch lag aufgeschlagen vor ihr.
»Ich sehe nicht ein, warum wir nicht das Beste aus der Situation machen sollten«, sagte die liebenswerte Kay. »Es freut mich, daß Ihnen dieser Pullover gefällt. Er ist mein Lieblingsstück. Ich habe ihn unter ziemlich romantischen Umständen geschenkt bekommen.«
Sie konsumierten mehrere Gläser Sherry und eine ganze Flasche Wein. Franklin Steiner gehörte einem Wein-Club an, der einer wohlbekannten Firma assoziiert war, welche die Auswahl traf: weder kostspielige Spitzenprodukte noch billiges Gesöff.
»Lassen Sie uns den Kaffee in der Diele trinken«, sagte Kay schließlich. »Sagen Sie«, fragte Noelle, während Kay die Tassen vollgoß. »Haben Sie sich schon einmal einen Liebhaber genommen? Seit Ihrer Heirat mit Franklin, meine ich.«
»Ja«, sagte Kay. »Ich habe mir mehrere genommen , wie Sie das nennen. Sie nehmen keine Milch,
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