Ungewöhnliches. Da war doch eine Gestalt auf der Kanzel, nicht aufrecht stehend, sondern über das Predigerpolster geneigt? Trant konnte die Scheitelpartie eines kleinen, kahlen Kopfes mit einem tiefangesetzten Kranz weißer Haare, fast wie ein Heiligenschein, und nach beiden Seiten ausgestreckte Arme mit schlaffen Fingern erkennen. Dabei sprach nichts für einen Priester; die Gestalt trug weder Weiß noch Schwarz, sondern war im Gegenteil in mehrere leuchtende Farben gehüllt. Obwohl einigermaßen verwirrt, ging Trant weiter, passierte die nächste Säule im Bogengang zwischen Hauptschiff und Seitenschiff und warf durch das freie Feld erneut einen Blick auf die Kanzel. Er sah sofort, daß dort nichts war, nichts außer einem Haufen minderrangiger Meßgewänder sowie Schriftstücke in farbigen Einbänden.
Trant hörte ein Lachen. Er wandte sich um. Hinter ihm stand ein schlanker, braunhaariger junger Mann in einem grauen Anzug.
»Entschuldigen Sie«, sagte der junge Mann. »Ich selbst habe es auch gesehen, also haben Sie keine Angst.« Er sprach klar verständlich, wenn auch mit einem leichten ausländischen Akzent.
»Es war erschreckend«, erwiderte Trant. »Nicht von dieser Welt.«
»Ja. Sie sagen es: nicht von dieser Welt! Ist Ihnen das Haar aufgefallen?«
»Und ob.« Der junge Mann hatte genau die Einzelheit herausgegriffen, die Trant am meisten verwirrt hatte. »Was halten Sie davon?«
»Heilig, heilig, heilig«, sagte der junge Mann mit dem ausländischen Akzent; dann lächelte er und schlenderte in westlicher Richtung davon. Trant war fast sicher, daß dies seine Worte gewesen waren. Das Haar der Truggestalt auf der Kanzel hatte Trant an die Darstellung von Heiligenscheinen auf manchen alten Gemälden erinnert; breite Lichtbalken oder -streifen, die einen äußeren verschwommenen Ring mit dem Kopf der Heiligen verbinden. Es hatte so ausgesehen, als bilde das weiße Haar der Gestalt solche Speichen.
Trant riß sich zusammen und gelangte zum südlichen Querschiff, das voller Totenschilde hing. Er nahm sich ›Der zwölfjährige Jesus im Tempel‹ vor – »das Meisterwerk von Frans Pourbus d. Ä.«, wie der Reiseführer anmerkte – und bemühte sich, die Berühmtheiten zu identifizieren, die darauf dargestellt sein sollten – darunter der Herzog von Alba, Vigilius ab Ayatta und sogar Kaiser Karl V.
›Das Martyrium der Heiligen Barbara‹ von De Crayer in der angrenzenden Kapelle war, wie sich zeigte, mit einem Tuch verhängt – eine weitere irritierende kontinentale Sitte, mit der Trant bereits zuvor Bekanntschaft gemacht hatte. Da niemand in der Nähe zu sein schien, hob Trant eine Ecke des Tuches an, das wie so vieles andere in belgischen Kathedralen braun und staubig war, und spähte darunter. Es war kaum möglich, sehr viel zu erkennen, zumal das Licht sehr schlecht war.
»Warten Sie, ich helfe Ihnen«, sprach eine transatlantische Stimme in Trants Rücken. »Ich nehme es ganz weg, und dann werden sie etwas zu sehen bekommen, das können Sie mir glauben.«
Wieder war es ein junger Mann, aber diesmal ein rothaariger und fröhlich dreinschauender Jüngling in einer grünen Windjacke.
Der Jüngling entfernte nicht nur das Tuch, er schaltete auch elektrisches Licht ein.
»Danke«, sagte Trant.
»Nun schauen Sie genau hin.«
Trant sah hin. Es war eine außerordentlich grauenerregende Szene.
»Meine Güte.« Trant hatte kein Verlangen, länger hinzuschauen. »Trotzdem vielen Dank«, sagte er, sich für seine Abscheu entschuldigend. »Was für ein merkwürdiges Völkchen diese alten Heiligen doch waren«, kommentierte der transatlantische Jüngling, als er das abgenutzte Tuch wieder anbrachte.
»Vermutlich haben sie ihren Lohn im Himmel erhalten«, meinte Trant.
»Darauf können Sie wetten«, sagte der Jüngling mit einer Inbrunst, die Trant nicht ganz nachvollziehen konnte. Er schaltete das Licht aus. »Bis später.«
»Schon möglich«, sagte Trant lächelnd.
Der Jüngling sagte nichts mehr, steckte die Hände in die Taschen und verschwand pfeifend im Südportal. Trant selbst hätte niemals gewagt, in einer fremden Kirche derart laut zu pfeifen.
Wie jedermann weiß, ist das bedeutendste Kunstwerk in der Kathedrale von St. Bavo die ›Anbetung des Lammes‹ des mysteriösen van Eyck oder der van Eycks, Singular oder Plural. Heute hängt das Bild in einer kleinen, durch Vorhänge separierten Seitenkapelle, die vom südlichen Chorumgang abzweigt, und die meisten Fremden müssen bezahlen, um
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