es zu sehen. Als Trant die Kapelle erreichte, sah er den entsprechenden Hinweis an der Tür, da er aber hier wie überall keine Geräusche hörte, nahm er an, daß er allein war. Ein wenig ungehalten über die Forderung nach Eintrittsgeld, wie bei Protestanten üblich, ergriff er die Initiative und hob den dunkelroten Vorhang sachte an.
Obzwar in der Kapelle weiterhin Ruhe herrschte, war sie doch keineswegs menschenleer. Im Gegenteil, sie war so voll, daß Trant keinen Schritt weiter hätte hineintun können, selbst wenn er es gewagt hätte.
Es waren zwei Arten von Leuten in der Kapelle. Vorn befanden sich mehrere Reihen schwarzgekleideter Männer. Sie knieten mit gesenkten Häuptern, Schulter an Schulter, Hüfte an Hüfte in – wie Trant vermutete – schweigender Andacht. Hinter ihnen befand sich, noch dichter gedrängt, eine Gruppe, fast schon ein Pulk, wunderlicher, alter belgischer Frauen, aufgedunsen häßlich, ohne Geschlecht und herrisch, wie Trant sie anderswo, an geweihten wie an weltlichen Stätten, schon oft gesehen hatte. Die alten Frauen knieten nicht, sondern saßen. Dennoch wirkten sie auf gespenstische Weise verzückt. Am seltsamsten wirkte ihr regloses Schweigen. Trant hatte überall in Belgien solche Versammlungen gesehen, aber nie, niemals schweigend, ganz im Gegenteil. Keine einzige Person diese Gruppe schien seine Anwesenheit auch nur zu bemerken: gleichermaßen ungewöhnlich für ein so neugieriges Volk.
Und in diesem sonderbaren Rahmen nahm sich das berühmte Bild selbst nicht minder sonderbar aus, mit seinen rätselhaften Monstren, Hexen und wandelnden Allegorien und seinen eigenartig leuchtenden Farben, die einer anderen Welt anzugehören schienen – in seiner Gesamtheit zweifellos in der Terminologie Freuds deutbar, aber nichtsdestoweniger so dicht gewirkt wie ein Orientteppich und älter als Adam und Eva, die am Rand zu sehen sind. Trant fand, daß das Bild seinen beunruhigenden Verehrern nur allzu verwandt war.
Er ließ den Vorhang fallen und setzte überaus erregt seinen Weg fort.
Zwei Kapellen weiter stieß er auf die ›Lobpreisung der Jungfrau‹ von Liemakere. Hier war ein Chorknabe in einer roten Soutane damit beschäftigt, das Altarkruzifix zu polieren. Sein schwarzes Haar war schon spärlich, sein Gesicht grau und wachsam.
»Onze lieve Vrouw«, erläuterte der Chorknabe Trant das Bild.
»Ja«, sagte Trant. »Vielen Dank.«
Ihm ging durch den Kopf, daß Polieren eine merkwürdige Beschäftigung für einen Chorknaben war. Vielleicht war er gar kein Chorknabe, sondern eine andere Art Kirchendiener. Trant kam erneut in den Sinn, daß er in Kürze aus dem Gebäude gewiesen werden müßte. Er sah auf seine Uhr. Sie war stehengeblieben. Sie zeigte noch immer 11.28 Uhr.
Trant schüttelte die Uhr an seinem Ohr, aber sie begann nicht wieder zu ticken. Er sah, daß auch der Junge mit der Polierarbeit (er war mit den durchbohrten Füßen beschäftigt) eine Uhr an einem schmalen schwarzen Armband trug. Wieder gestikulierte Trant. Der Junge schüttelte mit einiger Heftigkeit den Kopf. Trant war sich nicht sicher, ob die Uhr des Jungen defekt war oder ob er möglicherweise dachte, daß Trant sie ihm wegnehmen wolle. Dann wurde ihm in Sekundenschnelle klar, daß der Junge, was immer sonst in ihm vorgehen mochte, gewiß nicht beunruhigt wirkte. Im Gegenteil. Er schien so entrückt, als sei er bereits ein Priester, und weigerte sich wohl aus Prinzip, Trant die Zeit mitzuteilen – fast schon mit der Andeutung, er weigere sich zum Besten des Fragenden, wie sie sich Priester gerne gestatten. Trant verließ die Kapelle mit Liemakeres Meisterwerk rasch wieder.
Wieviel Zeit mochte ihm wohl noch bleiben?
In der nächsten Kapelle befand sich ein umfängliches Altarbild von Rubens, das St. Bavo zeigte, wie er all seine Besitztümer an die Armen verteilt.
In der nächsten war das entsetzliche ›Martyrium des Heiligen Livinus‹ von Seghers zu sehen.
Nach einer weiteren Seitenkapelle hatte Trant die Kreuzungsstelle des nördlichen Querschiffs und des Chors erreicht. Der Chor war von einer wuchtigen und undurchdringlichen Abschirmung aus schwarzem Marmor wie von einem Käfig für kaiserliche Löwen umgeben.
Der Reiseführer wies ausdrücklich auf die vier Gräber einstiger Bischöfe hin, die sich im Innern befinden sollten, aber Trant konnte, als er durch das steinerne Gitter hindurchspähte, kaum Umrisse erkennen. Er ging von einem Ende der Chorstufen zum anderen, auf der Suche nach einem
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