die richtige Anordnung zu treffen.
Jetzt konnte ich das Mädchen sehen. Sie saß aufrecht. Ihre Hände hatte sie gegen ihre linke Seite gepreßt, wo vermutlich das Schwert eingedrungen war. Aber es war auch jetzt keine Spur von Blut zu sehen, allerdings konnte man bei dem schlechten Licht kaum sicher sein. Am merkwürdigsten war, daß sie nun mit ihren weitgeöffneten Augen und einem kleinen Lächeln auf den Lippen nicht nur glücklich aussah, sondern trotz des grünen Puders sogar schön, was völlig meinem ersten Eindruck zuwiderlief.
Der Freiwillige ging auf dem Weg zu seinem Platz zwischen dem Mädchen und mir hindurch. Obwohl das Zelt fast leer war, nahm er gewissenhaft wieder seinen ursprünglichen Platz ein. Ich konnte ihn jetzt ein wenig besser erkennen. Er sah immer noch so aus wie jedermann.
»Der nächste«, rief der Seemann – wieder im Ton eines Feldwebels beim Rapport. Diesmal war es mit der Zurückhaltung vorbei. Drei Männer sprangen unverzüglich auf, und der Seemann mußte einen auswählen.
»Sie«, sagte er, indem er mit seinem dicken Finger gebieterisch in die Mitte des Zeltes deutete.
Der Erwählte war bereits älter, kahl, untersetzt, von biederem Aussehen; er trug einen dunklen Anzug. Er hätte ein pensionierter Auf Sichtsbeamter der Eisenbahn oder des Elektrizitätswerks sein können. Er hinkte leicht, möglicherweise eine Folge seines Berufs.
Der Ablauf der Geschehnisse war fast derselbe. Der zweite Mann war jedoch beherzter und brauchte weniger Anleitung, auch was den Kuß betraf. Sein Kuß war ebenso lang und leise wie der des ersten Mannes – vielleicht väterlicher. Als der ältere Mann beiseite trat, sah ich, daß das Mädchen beide Hände mitten auf ihren Bauch preßte. Ich krümmte mich innerlich bei diesem Anblick.
Und dann kam der dritte Mann. Als er an seinen Platz zurückkehrte, umfaßten die Hände des Mädchens die Kehle.
Der vierte Mann, äußerlich ein härterer Typ mit einer Tuchmütze (die er auch auf der Bühne nicht abnahm) und einer Sportjacke, die so schmutzig und abgewetzt war wie das Zelt, stieß das Schwert offensichtlich durch den Netzstrumpf in den linken Oberschenkel des Mädchens. Als er die Bühne verließ, umklammerte sie ihr Bein, schaute dabei aber so befriedigt drein, daß man hätte denken können, ihr sei ein Gefallen getan worden. Und noch immer kein Blut.
Ich wußte wirklich nicht, ob ich noch mehr Einzelheiten sehen wollte. Unerfahren wie ich war, wäre mir die Entscheidung auch schwergefallen.
Ich mußte mich nicht entscheiden, weil ich nicht den Mut hatte, auf einen besseren Platz zu wechseln. Denn in dem Fall wäre ich wohl der nächste Mann gewesen, den der Seemann aufgerufen hätte. Und eines wußte ich mit Sicherheit: Was immer dort oben auch vorgehen mochte, ich würde mich nicht daran beteiligen. Ob es nun ein Zaubertrick war oder sonst was, wovon ich nichts verstand – ich würde mich nicht darauf einlassen.
Aber natürlich würde ich, falls ich bliebe, bald selbst an der Reihe sein.
Jedenfalls war ich noch nicht der fünfte Mann, der aufgerufen wurde. Es war ein großer, schlaksiger Schwarzer. Ich hatte ihn vorher nicht als solchen erkennen können. Obwohl er so dünn war, schien er mit all der Kraft, die man von einem Schwarzen erwartet, zuzustoßen, dann warf er das Schwert mit einem scheppernden Geräusch auf den Bühnenboden, was vor ihm noch keiner getan hatte, und zog das Mädchen wahrhaftig zu sich in die Höhe, als er es küßte. Als er zurücktrat, stieß sein Fuß gegen das Schwert. Er hielt eine Sekunde lang inne, starrte das Mädchen an und legte das Schwert schließlich vorsichtig zurück auf den Stapel.
Das Mädchen stand noch immer aufrecht, und mir kam der Gedanke, der Schwarze könne versuchen, sie noch einmal zu küssen. Aber er tat es nicht. Er ging ruhig zurück zu seinem Stuhl. Für all dies schien es Regeln zu geben, über die die anderen Männer Bescheid wußten. Sie benahmen sich fast so, als besuchten sie die Show ziemlich oft, falls man von einer Show sprechen konnte.
Als das Mädchen wieder in den wackligen Segeltuchstuhl zurücksank, richtete es seine Augen auf mich. Ich konnte nicht einmal sagen, welche Farbe sie hatten, aber Tatsache war, daß mein Herz stehenblieb. Ich war so naiv und unerfahren, daß mir in meinem ganzen bisherigen Leben noch nichts dergleichen widerfahren war. Der unglaubliche grüne Puder spielte keine Rolle. Nichts von dem, was sich zugetragen hatte, spielte eine Rolle. Ich
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