0004 - Götterdämmerung
war ein Fremder Ras, den sie kaum kannte. Ein abgerissener Mann in zerfetzter Kleidung, in der Hand ein stoßbereites Messer...
„Ras? Was ist mit dir? Das Messer ..."
Der Student stand wie erstarrt. Mit aufgerissenen Augen sah er seine Schwester an. Langsam ließ er die Hand mit dem Messer sinken. Es fiel klirrend zu Boden.
„Bruder, was hast du?" Ras keuchte schwer. Er sah sich langsam um, ohne zu begreifen, wie er hierher gekommen war. Noch vor einer Sekunde hatte er mehr als zweitausend Kilometer entfernt mitten im Urwald auf einem Baum gesessen, den sicheren Tod vor den Augen. Und nun...
EI Obeid. Das Elternhaus! Die Schwester!
„Rahaz - du bist es? Bin ich wirklich hier?"
„Natürlich bist du hier - aber wie siehst du aus? Bist du geflohen? Mein Gott, du könntest aus dem Gefängnis ausgebrochen sein."
„Vielleicht bin ich das", murmelte er zitternd. „Aus einem geistigen Gefängnis. Aus dem Gefängnis, das unser Gehirn errichtet hat. Aber - das ist doch unmöglich! Warum ausgerechnet ich?"
„Was meinst du? Ich verstehe nicht..." „Rahaz ich verstehe es selbst nicht. Mein Gott, ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ich war mit einer Expedition unterwegs - die Expedition!"
Er entsann sich urplötzlich seiner Aufgabe. Sie hatten ihn geschickt, um Rettung zu holen. Aber - sie waren zweitausend Kilometer entfernt. Das war kein Problem heute. Wenn er den genauen Standort wußte. Vielleicht mit dem Flugzeug?
„Höre Rahaz, meine Freunde befinden sich in Gefahr. Ich habe sie erst heute mittag verlassen - im Kongo."
Die Schwester sah ihn zweifelnd an. Ras fieberte, das war ihr klar. Sie mußte ihn zu einem Arzt bringen, und zwar sofort.
„Hast du Lebensmittel im Haus?" fragte Ras entschlossen. „Packe sie zusammen in einen Beutel. Schnell."
Zehn Minuten später hielt er das Bündel in der Hand.
„Dreh dich um, Rahaz. Ich bin in einer Stunde wieder zurück. Du mußt mir glauben, hörst du. Ich werde..."
Sie rannte an ihm vorbei und schloß die Tür. Den Schlüssel schob sie in die Tasche ihrer Schürze.
„Hiergeblieben, Ras! Was immer du auch vorhast, zuerst kommt Dr. Schwarz, um dich zu untersuchen. Ich habe schon nach ihm geschickt, und er wird wissen …"
Sie verstummte. Nur einen Augenblick hatte sie sich umgedreht, um das Fenster zu schließen. Als sie sich wieder Ras zuwandte, war die Stelle, an der er gestanden hatte, leer...
*
Und noch ein vierter Fall verdient es, aufgezeichnet zu werden, denn er war wohl der unglaublichste und geheimnisvollste, betraf er doch ein Gebiet der Parapsychologie, von dem man bisher noch nichts geahnt hatte.
Es gab keinen Menschen auf der Erde, der jemals eine solche Möglichkeit ernsthaft hätte in Betracht ziehen können...
*
In der Wohnung des Schriftstellers Ernst Ellert trafen sich an jedem Freitagabend einige junge Künstler aus München-Schwabing. Jeder brachte seinen Anteil in Form einer Flasche oder eines kleinen Wurstpaketes mit und hatte somit das beruhigende Gefühl, dem schmalen Geldbeutel des freischaffenden Künstlers nicht zur Last zu fallen. Auch heute war es so. Sie feierten den Geburtstag von Johnny, dem stets arbeitswütigen Maler, der es selbst in der frohen Runde niemals lassen konnte, wenigstens Skizzen auf die buntgefärbten Tapeten zu werfen. Ellert hatte es längst aufgegeben, ihn deswegen zur Rede zu stellen. Er bekam dann jedesmal etwas von „banausischer Hemmwirkung" zu hören, ein Schlagwort, das in seinen Ohren wie „Ewige Verdammnis" klang.
Ein wenig verspätet, wie immer, erschien Heinrich Lothar, von dem niemand so recht wußte, wovon er eigentlich lebte. Man munkelte von Fotomodellen und gelegentlichen Übersetzungen, was Heinrich jedoch nicht davon abhalten konnte, jedem bei der Begrüßung heimlich und diskret zuzuflüstern: „Sag mal, kannst du mir nicht bis morgen fünf Mark leihen?"
Dieser zu Herzen gehende Appell war zu seinem Leidwesen nur ein einziges Mal von Erfolg gewesen. Ellert hatte sich erweichen lassen. Natürlich bekam er die fünf Mark nie zurück.
Der Vierte im Bunde war heute Aarn Munro, der Verleger einer winzigen Zeitschrift, die von niemandem gelesen wurde. Natürlich war Aarn Munro nicht sein richtiger Name, aber er liebte es, nach dem Helden eines sehr bekannten utopischen Romanes benannt zu werden. Von seiner Zeitschrift allein konnte er nicht leben, so übte er noch nebenbei einen zivilen Beruf aus, den er jedoch nur ungern erwähnte. Er galt lieber als
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