0004 - Götterdämmerung
In der weiten Steppe des Sudan lag eine Oase, die sich zuerst zu einem kleinen Dorf, dann zu einer regelrechten Stadt entwickelt hatte: El Obeid! Hier hatten seine Eltern gelebt, und hier war er geboren worden. Hier hatte er seine Jugend verbracht, die unbeschwerten Tage seiner Kindheit. Die Dorfschule mit ihren Lehrern, die Erinnerungen an lustige Streiche hervorriefen, wenn man ihrer gedachte. Der alte Scheikh der immer am Dorfteich unter dem Affenbrotbaum gesessen und den Kindern seine Geschichten erzählt hatte - wie gut Ras sich an ihn entsinnen konnte, als sei es erst gestern gewesen. Oder die Eltern …
„Instinkt, Ras!" sagte der Expeditionsleiter und riß ihn aus seinen Träumen. „Nicht allein der Kompaß entscheidet, sondern der Instinkt. Noch Ihre Eltern waren mit dieser Natur verwachsen, vergessen Sie das nicht. Das verliert sich nicht so schnell. Es spielt keine Rolle, wo Sie gutgewachsen sind. Sie gehören zur ersten Generation. Wenn einer von uns die Chance zum Überleben hat, dann Sie. Also sind auch Sie es, der am ehesten Hilfe herbeiholen kann."
Langsam sah Ras von einem zum anderen. Der Deutsche hockte dicht im Feuer und schien zu frieren, obwohl es warm und schwül war. Er trocknete seine Füße und Stiefel, die vom Sumpf durchnäßt waren. Der eine Russe saß auf einem morschen Baumstamm und starrte düster vor sich hin. Das Gewehr stand neben ihm, aber nur noch zwei Patronen steckten im Lauf.
Der Expeditionsleiter betrachtete Ras erwartungsvoll.
Der Chemiestudent seufzte. „Sie sind der Boß. Wenn Sie es wünschen, werde ich es versuchen, aber ich weiß nicht …"
„Wir werden ja sehen. Sie nehmen ein Gewehr und fünf Schuß mit. Uns verbleiben dann noch zehn Schuß für die Jagd. Außerdem erhalten Sie Ihren Anteil an den Medikamenten. Es ist nicht viel, aber für einen Anfall reicht es. Wasser gibt es genug. Sie müssen jagen."
„Mit anderen Worten: keine Lebensmittel?"
„Keine Lebensmittel! Sie sind zu knapp. Es tut mir leid, aber ich sehe keinen anderen Ausweg. Sie brechen heute noch auf."
Ras wußte, daß jedes Argumentieren sinnlos war. Er fügte sich dem Befehl und nahm kurz darauf Abschied von den Kameraden. Mit festen Schritten ging er davon und drang in das dichte Unterholz ein.
Hinter ihm schlossen sich die Zweige vor den Freunden, die regungslos auf der kleinen Lichtung saßen und ihm nachblickten.
Zuerst war es nicht so schlimm. Ras fand einen von Tieren ausgetretenen Pfad und folgte ihm in östlicher Richtung. Wenn ich so an die tausend Kilometer weitergehe, dachte er bitter, komme ich zur Küste. Nur dürfte das bei diesem Tempo einige Wochen oder Monate in Anspruch nehmen. Es ist sinnlos. Aber was soll ich machen? Vielleicht hilft mir der Zufall, und ich finde einen wandernden Nomadenstamm, Oder Pygmäen. Oder... EI Obeid!
Wenn er dort geblieben wäre, ginge es ihm sicherlich gut. Zwar würde er sich dann kaum einen Studenten nennen dürfen, aber er würde leben. Vielleicht wäre er sogar Lehrer geworden. Seine Eltern wären noch am Leben - vielleicht. So wohnte nur noch seine Schwester in dem alten Haus, das ihnen gehörte. Er hatte sie lange nicht mehr gesehen. Vorsicht!
Es war nur ein Affe, der hoch oben im Blätterdach des Urwaldes den seltsamen Wanderer entdeckt hatte und sich darüber verwunderte. Sein Schnattern weckte ein lebhaftes Echo Ras überlegte, ob er ihn schießen sollte, aber er verspürte keinen Hunger, obwohl er heute kaum etwas gegessen hatte. Rüstig schritt er weiter.
Es wurde schnell dunkel. Auf keinen Fall, so beschloß er, würde er auf der Erde übernachten. Er mußte einen Baum finden, dessen ersten Ast er erreichen konnte. So leicht war das nicht. Als es fast finster war, entdeckte er einen der umgestürzten Riesen, der eine Bresche in das Unterholz geschlagen hatte. Er lief auf dem Stamm entlang und kam zu einer mächtigen Astgabel, von der aus viele „Wege" in ein neues Reich führten, das er noch nicht kannte. Ein Gewirr von Zweigen und mannsdicken Ästen wob eine Decke, mehr als zwanzig Meter über der Erde.
Es war nicht schwer, einen geeigneten Platz zu finden. Eine Art Höhle bot Schutz vor dem Wind und gab außerdem Rückendeckung. Er wickelte die gerollte Decke von der Schulter und breitete sie aus. Das Gewehr stellte er in eine Astgabel. Immer noch verspürte er keinen Hunger, aber dafür große Müdigkeit.
Er legte sich in die Mulde, lauschte noch eine Weile auf die nächtlichen Geräusche des Urwaldes und schlief dann
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