002 - Die Angst erwacht im Todesschloss
von einem Ohr zum anderen,
aber er sagte noch immer kein Wort. Er war der Typ, der gern zuhörte.
Finnigan steuerte den Wagen direkt neben die breiten Sandsteinstufen und
schaltete dann den Motor aus.
Durch den sich ständig bewegenden Nebel erkannte er die mächtigen
Sandsteinsäulen, die eine menschliche Form hatten und mit ausgestreckten Armen
das Portal stützten. In einigen Zimmern bemerkte der Ankömmling schwachen
Lichtschein, und es schien, als würden die schwach erleuchteten Fenster
vollkommen frei vor ihm in der grauen, wallenden Luft schweben. Die Wände des
Schlosses wurden von den Nebelbänken förmlich verschluckt.
John stieg die breiten Stufen hinauf; Finnigan öffnete die Tür des
Kombiwagens. Der Händler wandte sich an seinen Sohn, als er sah, dass auch
Bobby aussteigen wollte.
»Nein! Heute nicht, Bobby ... Bleib' im Wagen«, sagte der Mann
eindringlich. »Ich möchte nicht, dass du bei diesem Wetter hier herumläufst,
allzu leicht kann man sich da verlaufen. Der Park ist so groß wie ein Wald. Ich
möchte nicht, dass wir nachher noch eine Suchaktion starten müssen.«
Deutlich spiegelte sich die Enttäuschung im Gesicht des Dreizehnjährigen.
»Oh, Dad! Ich habe mich so darauf gefreut. Lass mich doch bitte in den
Kinderpavillon gehen. Bitte ...«
Finnigan schüttelte den Kopf. »Ein anderes Mal, Bobby. Nicht heute. Ich
verspreche dir, dass du dann bestimmt dorthin darfst ...«
»Aber ich habe mich doch so darauf gefreut, Dad«, entgegnete der Junge
hartnäckig. »Ich verirre mich bestimmt nicht. Ich kenne den Weg genau. Ich
brauche von hier aus nur geradeaus zu gehen, dann stoße ich auf den
Seitenflügel im Turmanbau. Und ein paar Schritte weiter rechts – steht der
Pavillon schon ...«
Bobby bettelte solange, bis Finnigan seinem Sprössling endlich nachgab. »Du
kannst dich wirklich auf mich verlassen, ich werde aufpassen. Du bist viel zu
ängstlich, Dad.«
Finnigan musste insgeheim zugeben, dass Bobby eigentlich recht hatte. Er
war schon ein aufmerksamer Bursche. Man konnte sich auf ihn verlassen ...
»Aber du musst mir versprechen, dicht am Schloss zu bleiben, damit du dich
ja nicht verirrst, Bobby. Ich möchte dich nachher wirklich nicht suchen«,
konnte er es doch nicht unterlassen, dies noch einmal zu erwähnen. »Ich beeile
mich. Wir müssen schnell wieder weiter. Ich möchte nicht zu spät in London sein.
In spätestens einer Viertelstunde bist du wieder hier am Wagen. Einverstanden?«
Bobby nickte und warf einen Blick auf seine Uhr. »Okay, Dad ...«
Mit diesen Worten riss er die Tür auf und sprang in den Nebel. Finnigan sah
die schemenhafte, schattengleiche Gestalt, die in Höhe des Schlosses
verschwand. Bobby hielt sein Versprechen. Dicht an der Schlosswand entlang lief
er bis zum Seitenflügel. Dabei ließ er seine Hand ständig über das Mauerwerk
gleiten, um nicht vom Weg abzukommen.
Während der Händler Kisten und Kästen aus dem Wagen holte und nacheinander
ins Gebäude trug, erreichte der Junge das Ende des Gemäuers und musste von hier
aus über die Rasenfläche laufen. Der Junge rannte zu dem schemenhaft den Nebel
durchdringenden Seitenflügel. Von dort aus wandte er sich nach links und sah
die runden Mauern des Towers emporragen. Die Spitze des Turmes verschwand im
Nebel. Bobby ging nach rechts. Noch zehn Schritte, und er erblickte den runden
Kinderpavillon.
Das dunkelgraue, ein wenig ungepflegt wirkende runde Häuschen zog den
Jungen wie ein Magnet an. Er kannte die Geschichte des Kinderpavillons. Vor
hundert Jahren etwa weilte ein russischer Fürst zu Besuch im Schloss. In der
Nacht träumte er, dass Feen und Elfen einen Pavillon im Schlosspark
errichteten. Ein Bauwerk, ganz allein für ihn, den jungen Fürsten, der damals
zehn oder zwölf Jahre alt gewesen sein sollte. Er erzählte seinen Traum am
nächsten Morgen. Sein Vater, Fürst Igor, hörte davon. Nach der Abreise seines
Sohnes veranlasste er, dass im Park, genau an der Stelle, wo sein Sohn geträumt
hatte, der beschriebene Bau errichtet wurde. Der russische Fürst machte den
Kinderpavillon dem damaligen Besitzer des Huntingdonschlosses zum Geschenk
unter der Bedingung, dass alle Kinder, die je in dieses Schloss kämen, dort
spielen dürften.
Der Pavillon bestand aus vier kleinen Zimmern. Jedes war genauso
eingerichtet, wie der junge Fürst es geträumt hatte. Es waren kleine farbige,
etwas verspielt wirkende Möbel, Tische und Stühle vorhanden, mit denen die
Kinder vor hundert Jahren und mehr
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