0020 - Die Rache der Medusa
Sekretärin sie war, weilte zur Zeit in Sofia. Er hatte schweren Herzens auf ihre wertvollen Dienste verzichtet, worauf Nicole sofort die Koffer gepackt hatte und abgeflogen war, ehe es sich Professor Zamorra noch mal anders überlegen konnte und sie mit dem Bannfluch der Unabkömmlichkeit belegte.
»Guten Morgen«, sagte Nicole artig, als sie ins Speisezimmer trat.
»Guten Morgen, mein lieber Schatz!« rief Mireille erfreut aus. Sie war ein quirliges junges Mädchen, dessen pechschwarzes Haar Nicole schon in früheren Jahren stets imponiert hatte.
Mireille lief ihr entgegen und küßte sie herzlich auf beide Wangen.
Mehmet Akbar faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite. Er erhob sich, neigte den Kopf leicht zur Seite und wünschte Nicole in gutem Französisch ebenfalls einen schönen Morgen. Er war ein Mann, wie er den Frauen gefällt. Vielleicht ein wenig zu ernst oder sensibel, mit einem traurigen Blick, der in jedem Mädchen auf der Stelle den Mutterinstinkt wachrief.
»Tut mir leid, daß wir mit dem Frühstück nicht auf Sie warten konnten«, sagte er mit einer Stimme, die mit Samt ausgelegt schien.
»Aber ich muß leider heute früher los zu einer wichtigen Lehrerkonferenz.«
»Ich bitte Sie, Mehmet. Das macht doch nichts«, erwiderte Nicole Duval. »Das Frühstück braucht nur gut und reichlich zu sein, das ersetzt mir jede Gesellschaft. Ich habe nämlich einen Bärenhunger.«
»Das hört man gern, Chérie«, lachte Mireille.
Nicole setzte sich an den Tisch.
Sie hatte bereits einen Stammplatz.
Mehmet Akbar verließ das Zimmer und kam erst wieder, als er ausgehfertig war. Mireille bekam einen Kuß. Nicole nickte er freundlich zu. Dann verließ er sein Haus.
Nachdem Nicole ihren Gaumen ausgiebig verwöhnt hatte, wobei sie sich speziell auf die türkischen Leckerbissen konzentriert hatte, fragte Mireille: »Nun, und was stellen wir beide heute an?«
»Ich dachte, das Programm würdest du zusammenstellen?«
»Wenn du möchtest.«
»O ja.«
»Willst du zum Fischen an den Bosporus fahren?«
»Nach Fischen ist mir heute eigentlich nicht.«
»Wäre dir ein Besuch des Topkapi angenehm?«
Nicoles Augen leuchteten.
»Ja, Mireille. Ja! Das wäre eine fabelhafte Idee.«
Eine halbe Stunde später saßen sie in Mireilles dunkelblauem VW-Käfer. Mehmet hatte ihn ihr gekauft, damit sie nicht auf öffentliche Verkehrsmittel oder Taxis angewiesen war. Mit diesem Wagen war sie jederzeit beweglich und konnte ganz Istanbul und Umgebung unsicher machen.
Auf der Fahrt zum Topkapi erwähnte Mireille Dorleac einen Zeitungsbericht, der ihr Sorgen zu machen schien.
Seit geraumer Zeit geschahen seltsame Dinge in Istanbul. Dinge, die sich niemand erklären konnte. Drei junge Männer waren nacheinander spurlos verschwunden. Man hatte wohl ihre entsetzlichen Schreie gehört, doch als man ihnen zu Hilfe eilen wollte, hatte man sie nirgendwo entdecken können.
»Seltsam«, sagte Nicole.
»Seltsam sagst du?« fragte Mireille erregt. »Ich finde das nicht bloß seltsam, Nicole. Ich finde das unheimlich. Hier geht es doch nicht mit rechten Dingen zu. Menschen verschwinden. Es sind aber nicht alte, gebrechliche Leute. Nein, es sind junge, kräftige Männer. Findest du es nicht eigenartig, daß sie sich nicht zu wehren vermochten?«
»Was weiß man denn konkret über das Verschwinden dieser Männer?« fragte Nicole Duval interessiert.
»Wie bitte?« fragte Mireille zurück, während sie den dunkelblauen Käfer durch das Verkehrsgewühl steuerte, das auf der Galatabrücke herrschte.
»Was weiß man zum Beispiel über diese drei Männer?« präzisierte Nicole ihre Frage.
»Sie waren arm.«
»Welchen Beruf hatten sie?«
»Jeder einen anderen. Der eine war Schuhputzer. Der andere Wasserträger. Der dritte war Geldwechsler. Den Geldwechsler hat es übrigens gestern nacht erwischt.« Mireille stockte. »Erwischt ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Er verschwand eben gestern abend.«
»Wo verschwand er?«
»Hinter der Hagia Sophia.«
»Und die anderen?«
»Wie?«
»Wo verschwanden die anderen?«
»Der Schuhputzer beim Feuerturm. Der Wasserträger verschwand drüben auf der asiatischen Seite, in Üsküdar.«
»Wie weit ist es vom Topkapi zur Hagia Sophia?« erkundigte sich Nicole Duval nicht ohne Hintergedanken.
»Es ist nur ein Katzensprung. Warum fragst du?«
»Was meinst du, ob wir den Katzensprung mal wagen sollten, Mireille?«
Nicoles Freundin wurde blaß. Sie trat so scharf auf die Bremse,
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