0020 - Im Landhaus der Schrecken
einem Monster!
Sie erinnerte sich an einen Horrorfilm, den sie vor etwa drei Jahren gesehen hatte. Wochenlang hatte sie hinterher nachts Angst gehabt, und lange Zeit war sie schweißgebadet aus ihren Träumen hochgeschreckt. In diesem Film war ein Ungeheuer durch Wände gegangen, als wären sie nicht vorhanden gewesen. April hatte sich immer wieder eingeredet, es wäre alles bloß eine perfekt gemachte Bildergeschichte, und sie kannte auch alle die Tricks und Effekte, die man bei solchen Streifen einsetzte, um das Publikum zu schocken. Trotzdem hatte die Story sie viele Nächte lang verfolgt.
Ihre nervösen Augen huschten über die Wände und blieben wenig später an dem Schrumpf kopf hängen.
Ein eiskalter Schauer rieselte ihr über den Rücken.
Ein dumpfes Hämmern setzte in ihrem Kopf ein. Der südamerikanische Schrumpfkopf, den sie damals gar nicht kaufen wollte, zu dem man sie nach langem Hin und Her überredet hatte, schien sich auf eine rätselhafte Weise verändert zu haben.
Er hatte pechschwarzes Haar, das ihn seitlich einrahmte und zu dünnen Zöpfen geflochten war.
Das Gesicht sah aus wie dunkles Mahagoni.
Der Tsantsa hatte die Augen geschlossen, und sein Mund war mit bunten Fäden zugenäht, als wollte man auf diese Weise verhindern, daß sein Geist entweichen konnte.
April Asher nahm einen hastigen Schluck vom Whisky. Nach wie vor fühlte sie sich angestarrt, und zwar von diesem faustgroßen Schrumpfkopf.
Sie hätte ihn nicht kaufen sollen. Er war ihr von Anfang an unheimlich gewesen, und wenn ihre Kollegen sie nicht ausgelacht hätten, hätte sie sich niemals dazu entschlossen, ihn mit nach England zu nehmen.
Der Kopf eines Menschen. Übersät mit zahllosen dunklen Furchen und Falten. Vielleicht auch nur eine täuschend echte Nachbildung. Jedenfalls kein Wandschmuck.
April leerte ihr Glas mit dem nächsten Zug. Der Tsantsa sollte dort nicht mehr länger hängenbleiben. Sie wollte ihn nicht mehr sehen. Ihr wurde angst und bange, wenn sie ihn ansah. Warum hatte sie ihn nicht schon längst weggetan?
Mit einer fahrigen Bewegung stellte April Asher ihr Glas beiseite. Sie gab sich einen Ruck und eilte durch den Raum. »Weg!« sagte sie heiser. »Weg mit dem widerwärtigen Zeug! Wie konnte ich das Ding überhaupt kaufen?«
Sie erreichte die Kommode, über der der Schrumpfkopf hing. Er schien mit einemmal eine bedrohliche Ausstrahlung zu besitzen. Die Schauspielerin versuchte, sich einzureden, daß sie sich das bloß einbildete.
Als sie die Hand nach dem Tsantsa ausstreckte, passierte es.
April Asher stockte der Atem. Das Blut gerann ihr in den Adern. Ihre Kehle war mit einemmal schmerzhaft zugeschnürt. Sie drohte in Panik zu geraten, denn…
Der Schrumpfkopf schlug in diesem Moment die Lider hoch und starrte sie mit böse funkelnden Augen an. Sein Blick ging ihr durch und durch. Sie wollte laut aufschreien, doch kein Laut kam über ihre vor Entsetzen blutleer gewordenen Lippen…
***
John Sinclair stieß die Kippe in den Aschenbecher, der auf seinem Schreibtisch stand. Er erhob sich und trat ans Fenster. London. Ein Lichtermeer mit vielen, vielen Schicksalen. Eine faszinierende Stadt. Ein Mekka für kauflustige Touristen. Ein Hort aber auch für Geister und Dämonen, die hier ein großes Betätigungsfeld vorfanden.
London, das Sündenbabel.
London, der Hexenkessel.
John liebte und haßte diese Stadt, in der er lebte und arbeitete. Sie vermochte ihm an manchen Tagen so vieles zu geben, und am anderen Tag beraubte sie ihn grausam seiner Illusionen.
Hinter ihm schlug das Telefon an.
Er ließ es läuten, blickte weiter über die Dächer der Stadt. Irgendwo dort draußen gab es einen Mann, dem es möglich war, Monster zu erschaffen, die für ihn Verbrechen begingen. John hätte viel dafür gegeben, den Namen dieses gefährlichen Unbekannten zu erfahren. Sicherlich würde er die Verbrechensserie fortsetzen. Die guten Anfangserfolge mußten ihn dazu geradezu ermutigen.
John ballte die Fäuste. In letzter Zeit war er vom Erfolg vielleicht etwas zu sehr verwöhnt worden. Deshalb schmeckte dieser unerwartete Rückschlag um so bitterer.
Ruckartig wandte er sich dem schrill läutenden Telefon zu.
»Oberinspektor Sinclair!« meldete er sich.
»Sie sind also doch noch im Haus«, sagte das Mädchen von der Telefonzentrale. John kannte sie persönlich. Ein junges Ding mit einer lustigen Stupsnase und Sommersprossen. Sie war zumeist ziemlich verrückt gekleidet. Auch heute verstand Nora Bolan durch
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