0024 - Bestien aus dem Schattenreich
»Monsieur Fleming sagte mir am Telefon, es gehe um das Auffinden einer bestimmten Legende.«
Zamorra nickte.
»Eine Legende, in der Wölfe eine Rolle spielen«, präzisierte er.
»Leider wissen wir überhaupt nichts Genaues. Weder in puncto Zeit noch in puncto Ort. Was wir suchen, kann sich praktisch in jedem beliebigen Jahrhundert irgendwo in Frankreich abgespielt haben.«
»Dass es in Frankreich war, halten Sie für sicher?«
»Ich vermute es. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür. Haben Sie irgendeine Idee, Professor?«
Lecourbé wiegte den Kopf mit der weißen Löwenmähne.
Einen Moment lang zögerte er, überlegte angestrengt – dann ließ er mit einer resignierenden Geste die Schultern sinken.
»Tut mir Leid, meine Herren«, meinte er. »Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern. Unter diesen Umständen bleibt mir nur übrig, Ihnen mein Archiv zur Verfügung zu stellen und Ihnen meine Hilfe anzubieten, falls Sie darauf Wert legen…«
***
Pierre Colombe presste den Telefonhörer ans Ohr. Auf seiner breiten Stirn unter dem blonden, von grauen Strähnen durchzogenen Stoppelhaar stand eine steile Falte.
»Verdammt«, knurrte er. »Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst mich hier nicht anrufen!«
»Ich hätte sofort eingehängt, wenn sich jemand anders gemeldet hätte«, erwiderte die helle Mädchenstimme. »Und im Übrigen könntest du endlich mal einsehen, dass ich kein Gegenstand bin, der auf Abruf für dich bereitsteht. Wirst du heute Mittag kommen?«
»Natürlich, mon ange! Das war ja verabredet, aber…«
»Hoffentlich kommt nicht wieder etwas dazwischen. Warten werde ich diesmal bestimmt nicht, darauf kannst du dich verlassen. Bei unserer letzten Verabredung hast du…«
Sie sprach weiter, rasch und verärgert. Pierre Colombe hörte nur mit halbem Ohr zu. Der große, massige Mann saß auf seinem Schreibtisch und rauchte. Sein Blick glitt müßig über die Zeitung, die vor ihm lag; und über die Schlagzeile, in der von Wölfen in den Tuilerien die Rede war – was nach Colombes Meinung nur eine unverschämte Erfindung der Sensationsjäger sein konnte. Erst als er das Geräusch auf der Treppe hörte, hob er den Kopf.
»Wie Sie wünschen, Monsieur«, sagte er laut und deutlich. »Ich denke, in diesem Punkt können wir uns einig werden. Also dann – au revoir!«
Rasch legte er den Hörer auf. Seine Frau kam die Treppe herunter, ausgehfertig im leichten Nerz und mit einer sorgfältig hochgetürmten Frisur, die der erste Windhauch in eine chaotische Löwenmähne verwandeln würde. Antoinette pflegte einen Stil, der in ihrer Jugend modern gewesen war. Sie sah aus wie ein Rubensengel: Blond, rosig und fett. Colombe erinnerte sich mit Wehmut an das niedliche Sexkätzchen, das er einmal geheiratet hatte.
»Du willst ausgehen?«, fragte er, obwohl daran nicht der geringste Zweifel bestand.
»Ich brauche ein paar neue Frühjahrsmodelle, Mon Petit«, flötete Antoinette. Ihr Mann schluckte, wie immer, wenn sie ihn »mein Kleiner« nannte. »Wie man hört, soll der Mini ja wieder in Mode kommen.«
Colombe schluckte zum zweiten Mal.
Die Vorstellung von Antoinette im Mini war selbst seiner Gleichgültigkeit zu viel. »Du wirst zweifellos deinem eigenen Stil treu bleiben, mein Herz«, formulierte er flüssig.
»Ich denke, das werde ich tatsächlich. Gehst du zum Essen aus, Mon Petit?«
»Ich habe eine geschäftliche Verabredung. Es dürfte bis zum Abend dauern, vielleicht länger. Du kennst diese Typen aus der Provinz. Wenn sie in Paris verhandeln, glauben sie, sich unbedingt die Nacht im Lido um die Ohren schlagen zu müssen.«
Antoinette produzierte das niedlichtörichte Lächeln, mit dem sie zu ihrer Glanzzeit ein paar kleine Erfolge in Werbespots errungen hatte. Müßig griff sie nach der Zeitung und überflog die Schlagzeilen. Sie schauderte leicht.
»Wölfe in den Tuilerien«, sagte sie. »Welch ein Unsinn!«
In diesem Punkt musste ihr Mann ihr ausnahmsweise recht geben.
Er begleitete sie zur Tür. Antoinette rauschte durch den breiten Vorgarten zum Wagen, und Pierre Colombe nutzte die Gelegenheit, um die Post aus dem Briefkasten zu nehmen.
Er ging in sein Arbeitszimmer.
Flüchtig überlegte er, ob er Marielle noch einmal anrufen sollte, ließ es dann jedoch bleiben. Die Kleine war höchst attraktiv und verführerisch, aber sie stellte in letzter Zeit Besitzansprüche, und das behagte Colombe ganz und gar nicht. Mit einem tiefen Atemzug lehnte er sich zurück und begann, die Post
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