0024 - Bestien aus dem Schattenreich
verlangt werde. Zamorra bedankte sich, entschuldigte sich für einen Moment und stand auf.
Kommissar Didier war am anderen Ende der Leitung.
In kurzen Worten informierte er seinen Gesprächspartner darüber, dass ein gewisser Pierre Colombe einen Drohbrief erhalten habe, in dem der Absender unter dem Namen ›Herr der Wölfe‹ zwanzigtausend Francs fordere. Didier fragte, ob Zamorra mitkommen wolle, um sich die Sache anzusehen, und versprach, einen Dienstwagen mit seinem Assistenten zu schicken, nachdem der Professor zugesagt hatte.
Nicole hob überrascht den Kopf, als Zamorra die Information weitergab.
Eine winzige V-förmige Falte stand auf ihrer hübschen Stirn. »Ein Erpresserbrief? Das passt einfach nicht ins Bild.«
»Möglicherweise doch.« Zamorra nippte nachdenklich an den Resten des bitteren schwarzen Zichorienkaffees. »Es kann sich um einen Verbrecher handeln, der es einfach für eine gute Idee hält, die in der Bevölkerung herrschende Furcht auszunutzen. Oder aber…«
Er verstummte. Für einen Moment versank er in tiefes Nachdenken. Bill Fleming wartete.
»Du glaubst, dass die Bestien dem Willen eines Menschen gehorchen?«, fragte er. »Dass es tatsächlich so etwas wie einen ›Herrn der Wölfe‹ gibt, der über die Tiere gebietet?«
»Ich glaube gar nichts. Noch nicht! Aber ich sehe auch nicht ein, warum die letzte Version weniger wahrscheinlich sein sollte als die erste. Wir brauchen Informationen, Bill! Wir müssen einfach wissen, was hinter dem Auftauchen dieser Wölfe steckt.«
»Informationen«, wiederholte Bill seufzend. »Das heißt, dass wir einen weiteren Pariser Frühlingstag in verstaubten alten Büchern wühlen müssen. Werden Sie das überstehen, Nicole?«
Zamorras Sekretärin schüttelte die blonde Lockenmähne zurecht.
Ihr schmales, hübsches Gesicht war ungewöhnlich ernst.
»Ja«, sagte sie. »Weil es nötig ist! Ich möchte so etwas wie den Vorfall in den Tuilerien nach Möglichkeit nicht noch einmal mit ansehen müssen.«
Die anderen stimmten zu.
Sie frühstückten zu Ende – aber Zamorra achtete nicht mehr darauf, was er aß. Er war zu gespannt auf den Fortgang der Ereignisse – und er spürte tief in sich die leise, nagende Unruhe, die ihn immer überkam, wenn sich irgendwo dunkle Ereignisse zusammenbrauten.
Nicole und Bill fuhren mit einem Taxi in Richtung Sorbonne. Zamorra wartete draußen vor dem Hotel, um noch ein wenig frische Luft zu schnappen, aber es dauerte nicht mehr lange.
Serge Didiers Assistent entpuppte sich als cleverer junger Mann mit dunklem Haar und hellwachen Augen hinter einer eckigen Hornbrille. Sein Name war Joe Gall, wobei Zamorra in dem Joe eine Abkürzung von José vermutete, und er schien sich vergeblich darüber den Kopf zu zerbrechen, was sein Chef von diesem merkwürdigen amerikanischen Wissenschaftler mit einem Loire-Schloss als Wohnsitz und einem Lehrstuhl an der Columbia-Universität wollen konnte.
Zamorra beantwortete die unausgesprochene Frage nicht, da das nicht seine Sache war. Joe Gall chauffierte schweigend, warf seinem Fahrgast nur ab und zu einen misstrauischen Blick zu. Das Ziel war eine der alten, teuren Wohnstraßen am rechten Ufer, und der junge Beamte stoppte vor der stuckverzierten Fassade eines zweistöckigen Hauses, das nur ein schmiedeeiserner Zaun und ein breiter Vorgarten von der Straße trennte.
Das Gebäude war in seiner ursprünglichen Gestalt belassen worden, aber innen offenbar mit allem Komfort ausgestattet. Serge Didier wartete in der komfortablen Wohnhalle. Er drückte Zamorra die Hand, dann wandte er sich dem hünenhaften Mann zu, mit dem er gesprochen hatte.
»Darf ich bekannt machen? Professor Zamorra, ein weltweit anerkannter Experte auf dem Gebiet der Parapsychologie, Pierre Colombe…«
»Stahlbau«, vollendete der Hüne lakonisch. Sein Haar war kurz geschnitten, blond, bereits leicht angegraut, und er reichte Zamorra eine kräftige Pranke. »Sie müssen mir verzeihen, Professor, dass ich die ganze so genannte Parapsychologie für einen Humbug halte. Vielleicht liegt das an meinem Beruf. Ein Stahlträger ist ein Stahlträ- ger – der wird vielleicht mal krumm gebogen, aber bestimmt nicht durch übernatürliche Kräfte.«
»Es soll schon vorgekommen sein«, sagte der Professor lächelnd.
»Allerdings ist es zugegebenermaßen ein recht unheimlicher Gedanke.«
»Ein total verrückter Gedanke!«, knurrte Pierre Colombe. »Tut mir Leid, wenn es unhöflich klingt, aber das ist nun einmal meine
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