0024 - Bestien aus dem Schattenreich
ihn auch unter den augenblicklichen Umständen interessierte.
Die beiden Tiere standen auf dem schmalen Weg, der zum See führte. Ihre Nüstern bewegten sich unruhig, die gelblichen Lichter spähten zum Haus herüber. Neben ihnen bewegte sich das Buschwerk. Ein drittes Tier tauchte auf, dann ein viertes – und Pierre Colombe spürte, wie sich das eiskalte Entsetzen gleich einem schweren Klumpen in seinem Magen zusammenballte.
Er wusste, dass das keine Hunde waren.
Es waren Wölfe! Riesige graue Wölfe!
Und das hieß…
Colombes Körper verkrampfte sich. Marielle spürte, wie sich seine Fingernägel in ihre Schultern gruben, schrie leise auf und machte sich mit einer heftigen Bewegung los. Sie fuhr herum, wollte ihrem Ärger Luft machen und zuckte zusammen, als sie das kalkweiße Gesicht ihres Begleiters bemerkte.
»Pierre!«, flüsterte sie. »Was ist los, Pierre, was…«
Er schluckte. Seine Kehle war wie zugeschnürt, die Lippen zitterten. Zwei Sekunden lang blieb er mit hämmerndem Herzen stehen, starrte aus dem Fenster und vermochte sich nicht zu rühren.
»Die Wölfe!«, hauchte er. »Die Wölfe…«
»Was für Wölfe? Bist du verrückt, Pierre? Willst du mir nicht endlich erklären…«
»Die Wölfe, verstehst du nicht?« Er schrie jetzt, seine Stimme überschlug sich. »Ich wollte es nicht glauben! Und jetzt sind sie da! Sie wollen mich umbringen, sie wollen…«
»Pierre! Komm zu dir! Du redest irre, du…«
Er stieß sie einfach beiseite.
Taumelnd, von Entsetzen gepeitscht, rannte er durchs Zimmer, schloss mit fliegenden Fingern die Haustür ab und legte den Riegel vor. Dann rannte er in die Küche, ins Bad, in den Salon, in die Schlafzimmer. Überall prüfte er, ob die Fenster geschlossen waren, ließ in verzweifelter Hast die Rollläden herab und verdunkelte schließlich auch noch das Wohnzimmer.
Sein Gesicht war schweißbedeckt, als er die Deckenleuchte einschaltete. Keuchend und erschöpft stand er mitten im Raum, sah sich um und überlegte, ob er nichts vergessen hatte. Marielle Aubry beobachtete ihn mit wachsendem Entsetzen.
Ihre Stimme klang fast schrill. »Mach die Tür auf. Ich will hier raus!«
»Bist du verrückt geworden? Hörst du nicht, was ich sage? Die Wölfe wollen uns umbringen!«
»Du hast ja den Verstand verloren!« Marielle wich vor ihm zurück, sie zweifelte allen Ernstes daran, dass er bei Sinnen war. »Ich will hier raus! Ich zeige dich wegen Freiheitsberaubung an, wenn du mich nicht sofort hier rauslässt, ich…«
Sie verstummte.
Denn im gleichen Moment erhob sich draußen ein lang gezogenes, klagendes Heulen – und dieses Geräusch klang so unheimlich und zugleich so drohend, dass selbst Marielle Aubry die nahende Gefahr spürte.
Sie hielt den Atem an.
Ihre Augen begannen zu flackern, als sie die tappenden Schritte hörte, das vielstimmige Hecheln. Das Geheul der Tiere schlug in heiseres, wütendes Bellen um. Ganz dicht waren die Bestien jetzt bei dem massiven Holzhaus, umrundeten das Gebäude und Marielle begriff, dass sie einen Weg suchten, um einzudringen.
»Pierre!«, krächzte sie. »Pierre, was hat das zu bedeuten, was…«
Er hörte nicht zu.
Stolpernd rannte er in den Nebenraum, zu dem Gewehrschrank, der an einer Wand voller Gehörne stand. Seine Hände zitterten, als er die schwedische Husqvarna Trabant herausnahm. Hastig lud er die Waffe durch, nahm sie unter den Arm und wischte sich mit der freien Hand den Schweiß von der Stirn.
Das Mädchen drängte sich dicht an ihn. Auch Marielles Gesicht war jetzt weiß vor Furcht. Unruhig glitt ihr Blick hin und her, und ihre Augen waren weit aufgerissen.
»Können sie hereinkommen?«, fragte sie flüsternd.
Colombe schüttelte den Kopf. Das Gewehr in seiner Hand hatte ihm einen Teil seiner Sicherheit zurückgegeben, auch wenn seine Stimme noch belegt klang. »Die Fenster im Erdgeschoss sind vergittert. Und die im oberen Stockwerk liegen zu hoch.«
»Und der Keller?«
»Alle Lichtschachtgitter sind mit Ketten befestigt. Wir sind hier sicher.«
Der schwere Mann schluckte und fuhr sich mit allen fünf Fingern durch das Stoppelhaar. »Allerdings wäre es besser, wenn wir uns etwas anziehen.«
Marielle nickte nur und begann hastig, sich anzukleiden. Colombe lehnte die Jagdbüchse neben sich an die Wand. Auch er griff nach seinen Kleidern – und im nächsten Atemzug hörte er den Krach, mit dem sich ein schwerer Körper gegen die Tür warf.
Er zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb.
Draußen
Weitere Kostenlose Bücher