0035 - Die Vampirfalle
Sheila stehen. Sie lauschte zurück. Vielleicht hörte sie etwas aus der Leichenhalle. Ein Geräusch, ein Schrei oder Triumphgebrüll… Nichts dergleichen. Es blieb still.
Sheila wußte nicht, wo sie war. Sie hatte diesen Ort vorher nie gesehen. Es war wirklich ein gottverlassener Totenacker, auf den der Wind die Jahre über seine schaurige Melodie heulte. Hätte Sheila das Baby nicht gehabt, so wäre sie zurückgelaufen und hätte versucht, John Sinclair zu helfen. So aber mußte sie sich auf gute Wünsche beschränken und auf die Hoffnung, daß John es im letzten Augenblick doch noch schaffte. Doch daran wollte Sheila nicht so recht glauben. Nicht, weil sie mir nichts zutraute, sondern weil sie Kalurac und dessen Brutalität kennengelernt hatte. Ein normaler Mensch konnte niemals so grausam sein wie diese Bestie. Und John war waffenlos! Er war voll auf die Bedingungen des Vampirs eingegangen. Aber was hatte er ihr zum Abschied zugezischt? Sagte er nicht, daß doch noch Hoffnung bestünde? Durch wen? Und wieso?
Sollten die gemeinsamen Freunde irgendwo im Hintergrund lauern? War vielleicht auch Bill dabei? Dieser Gedanke gab Sheila ein wenig Mut zurück. Vielleicht hatte John noch einen Trumpf in der Hinterhand. Denn so einfach ließ sich ein Mann wie er nicht aus dem Spiel bluffen. Sheila lächelte plötzlich. Wenn das wirklich stimmte, dann… Sie dachte nicht mehr weiter, sondern sah zu, daß sie den unheimlichen Ort so rasch wie möglich verließ. Ihre eleganten Theaterschuhe mit den hohen Absätzen sanken tief in dem feuchten Boden ein. Sheila konnte kaum laufen und schleuderte die Schuhe deshalb von den Füßen. Jetzt ging es besser.
Doch schon nach wenigen Schritten rissen die Nylons. Widerborstige Unkrautzweige fetzten Löcher in die Strümpfe und hakten sich an dem Gewebe fest.
Sheila schritt zwischen den Grabreihen hindurch. Sie glaubte, im Mondlicht einen schmalen Weg gesehen zu haben, der am Waldrand entlangführte und der sie unter Umständen zu einer Straße brachte.
Es war ein makabres Bild, als Sheila Conolly durch die Grabreihen lief und ihren kleinen Sohn fest an sich gepreßt hielt. Der Atem stand als helle Fahne vor Sheilas Lippen, und sie selbst wunderte sich, daß sie vor Schwäche noch nicht umgefallen war, denn was hinter ihr lag, war mehr als schwer. Sheila ahnte nicht, daß drei Vampire auf sie lauerten. Keinen von ihnen hatte sie bisher zu Gesicht bekommen, und Kaluracs teuflischer Plan schien aufzugehen.
Die Mortimer-Söhne hielten sich im Freien auf, um eventuelle Gegner abzufangen. Der alte Ezra Morrimer befand sich mit Kalurac innerhalb der Leichenhalle, doch seine Söhne hatten die Aufgaben von Wachtposten übernommen. Zwei von ihnen hockten in den Bäumen. Sie drückten sich so eng gegen die dicken Äste, daß sie mit deren Schatten verschmolzen.
Der dritte aber hatte sich in ein Grab gewühlt. Nur der dunkle Haaransatz sowie die Stirn und die Augen schauten aus dem feuchten Erdreich hervor. Der Untote war der jüngste der Mortimer-Sippe. Und er gierte danach, endlich unter Beweis stellen zu können, daß er ein echter Vampir war. Nun sah er die junge Frau. Allein. Schutzlos…
Er mußte sich beherrschen, um nicht aus dem Grab zu springen und der Frau entgegenzustürzen.
Lauernd wartete er ab. Das feuchte, modrige Erdreich war Balsam für ihn. Es fiel gar nicht auf, daß der Boden gelockert war. Die anderen Gräber sahen ebenfalls nicht viel besser aus. Viele waren eingefallen, zeigten tiefe Risse, und die Grabsteine saßen locker in der Erde. Es genügte ein Stoß, um sie umzuwerfen. Der Vampir lag mit dem Kopf dicht unterhalb des verwitterten Grabsteins. Seine Hände befanden sich direkt unter der feuchten klebrigen Erde, die Finger öffneten und schlossen sich. Die Frau kam näher.
Die anderen beiden Vampire mußten sie ebenfalls bemerkt haben. Von ihren Plätzen aus hatten sie einen noch besseren Überblick.
Der Nachtwind hatte den Himmel leergefegt. Kalt leuchtete der Mond. Sein Licht gab den Untoten die Kraft, zu überleben. Und auch die Tage zu überstehen, die sie meistens in dunklen Grüften und Särgen verbrachten.
Hivar Mortimer spürte die Kraft, die in ihm steckte, die ihn fast zur Explosion brachte.
Nichtsahnend schritt Sheila Conolly an dem provisorischen Grab des Vampirs vorbei. Sie sah nicht den dunklen Haarschopf, sondern hatte nur Augen für den schmalen Pfad. Das war die Sekunde des Blutsaugers. Mit vorsichtigen Bewegungen schraubte er sich höher.
Weitere Kostenlose Bücher