004 - Das Wachsfigurenkabinett
normal. Sie zog sich aus, wie immer halt. Aber plötzlich wurden ihre Bewegungen heftiger. Es schien so, als würde sie mit einem Unsichtbaren kämpfen, verstehen Sie? Sie wand sich und rief immer wieder, daß man sie in Frieden lassen solle. Klar, daß die Leute darauf abfuhren. Mal was anderes. Aber vielleicht steckte doch mehr dahinter. Ich lese gern Geisterstories und da – na ja, da passieren auch so seltsame Dinge.
Ich weiß natürlich, daß es so was nicht gibt, aber sie verhielt sich so anders, so ganz anders. Und alles begann mit dem Verschwinden von Kathy. Vielleicht war sie wahnsinnig. Ich kann es nicht sagen.«
Max schwieg.
»Erzählen Sie weiter!« drängte Dorian.
»Das war eigentlich alles. Miriam sagte, sie sehe Schatten, überall Schatten, die in allen Ecken lauerten und sie verschlingen wollten.
Das ist natürlich Unsinn.« Er schwieg. »Oder vielleicht doch nicht?«
Er sah Dorian an, der interessiert zugehört hatte. Überall stieß er auf Schatten. Die Vampire machten sich Sorgen wegen eines Schattens, Phillip überpinselte die Schatten mit schwarzer Farbe, und der Klubbesitzer sprach nun ebenfalls von Schatten. Dorian war ziemlich sicher, daß zwischen diesen Vorfällen ein Zusammenhang bestand.
»Ich möchte mit einer der Striptease-Tänzerinnen sprechen«, sagte er.
»Das läßt sich machen«, meinte Max und stand auf. Fünf Minuten später kam er mit dem Mädchen zurück, das bei Dorians Eintritt mit ihrer Nummer begonnen hatte. Sie war eine dreißigjährige Frau, deren Gesicht auch die dick aufgetragene Make-up-Schicht keinen Reiz verlieh. Unter dem Puder zeichneten sich die Tränensäcke und tiefen Falten deutlich ab. Die Haarwurzeln waren dunkel, die Spitzen jedoch blond gefärbt. Sie trug einen weißen, schmutzigen Morgenrock, der über dem Busen weit offenstand und ihre schweren Brüste sehen ließ. Als sie sich Dorian gegenüber setzte, versuchte sie, einen möglichst gleichgültigen Eindruck zu machen.
»Was gibt's, Süßer?« fragte sie und überkreuzte lässig ihre Beine.
»Was können Sie mir über Miriam und Kathy erzählen?«
»Über die beiden wollen Sie was wissen?« Sie verzog verächtlich die Mundwinkel. »Ich kannte sie kaum. Die hatten doch nur Augen für sich. Waren ganz schön scharf aufeinander. Ich überraschte sie mal in ihrer Garderobe. Sie trieben es ganz schön bunt. Wollen Sie Einzelheiten wissen?«
Dorian schüttelte den Kopf. »Nein, aber mich interessiert, wie sie zu den anderen Mädchen standen.«
»Da kann ich Ihnen nicht helfen, Mister«, sagte sie. »Keine Ahnung. Sie grüßten uns zwar, aber sonst wollten sie nichts mit uns zu tun haben. Waren ziemlich eigenartig, die beiden. Sie paßten überhaupt nicht zu uns. Tut mir leid, ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe in all der Zeit kaum zehn Worte mit ihnen gewechselt.«
Dorian bedankte sich und verließ den Klub. Nachdenklich fuhr er in die Baring Road zurück.
Als Dorian am nächsten Morgen um kurz nach neun Uhr das Frühstückszimmer betrat, lag ein dicker Briefumschlag auf dem Tisch. Er setzte sich und riß das Kuvert auf. Obenauf lag ein Bericht über das Wachsfigurenkabinett der Madame Picard, den er vorerst zur Seite legte. Außerdem war mit einer Büroklammer ein Zettel an fünf Farbfotos befestigt. Schauen Sie sich die Bilder an. Sie sind sehr interessant. O. I. , stand darauf.
Dorian nahm sich die Fotos vor. Das erste war eine Porträtaufnahme von Miriam, das zweite eine von Kathy. Beim dritten Bild hielt Dorian unwillkürlich den Atem an. Es zeigte Kathy vor einem Haus.
Sie stand neben einer Laterne, die einen deutlichen Schatten warf.
Nur Kathys Schatten fehlte. Auf dem nächsten Foto war wieder das Mädchen zu sehen. Diesmal hatte sie drei Schatten, von denen einer höchst seltsam geformt war. Das letzte Foto jedoch brachte die größte Überraschung. Nach dem Kleid zu urteilen, mußte es sich wieder um Kathy handeln, doch dort, wo sich ihr Kopf hätte befinden sollen, war nichts außer einem hellen Fleck, und durch diesen Fleck konnte man undeutlich den Hintergrund erkennen.
Nachdem er die Fotos nochmals durchgesehen hatte, nahm er sich den Bericht über Madame Picard vor. Mit richtigem Namen hieß sie Suzanne Fletcher und war vor achtundzwanzig Jahren in London geboren. Das Wachsfigurenkabinett hatte sie vor einem halben Jahr eröffnet. Es fand aber nicht viel Zuspruch, da die Wachsfiguren nicht die Qualität von Madame Tussaud's erreichten. Suzanne Fletcher war noch nie mit
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