004 - Kerry kauft London
zusammenfaßte.
»Tatsächlich bekomme ich sie nicht einmal, da ich sie schon im vorigen Jahr erhalten habe.«
Hermann ging ungeduldig im Zimmer auf und ab. Plötzlich wandte er sich dem Besucher zu und fragte: »Was halten Sie eigentlich von meiner Schwester?«
Bray wurde rot. Die Frage, noch dazu so unvermittelt, kam zu plötzlich. »Sie ist entzückend«, erwiderte er offen, »und sehr edelmütig. Wie Sie wissen, interessiert sie sich für Erziehung und besonders für das Schulwesen.«
Hermann räusperte sich. Er hatte sich um die Interessen seiner Schwester nie gekümmert, höchstens soweit sie seine eigene Zukunft betrafen. Seine eigene Zukunft! Beim Gedanken daran zog sich seine Stirn in Falten. Er hatte in der letzten Zeit schwere Verluste erlitten, sein Scharfsinn hatte ihn auffallenderweise im Stich gelassen. Erst vor kurzem war er wieder in eine Finanzkrise hineingeraten. Er hatte eine Menge Pläne, die in die Millionen gingen; aber dazu brauchte er auch Millionen. Deshalb hatte er seiner Schwester den Vorschlag gemacht, am Tage des Erbantritts gemeinsame Sache mit ihm zu machen und ihn mit der Verwaltung der zusammengelegten Kapitalien zu betrauen - einen Vorschlag, den sie jedoch sofort zurückgewiesen hatte. Er hatte eigentlich nur noch wenig zu erwarten, denn er hatte mit dem ihm zufallenden Teil des Vermögens schon vorweg gearbeitet, und sein Anteil war bereits zur Hälfte verpfändet. In zwölf Tagen würde Vera ihn verlassen und mit ihrem Vermögen machen können, was sie wollte. In zwölf Tagen konnte viel geschehen. - Der junge Mann könnte vielleicht sehr nützlich sein. Er änderte plötzlich sein Benehmen. Er war vollkommen vertraut mit den feinen Umgangsformen; manche behaupteten, er sei das Ideal eines Gentleman. Seine Schwester war allerdings anderer Meinung.
»Warum nehmen Sie nicht Platz?« fragte er und nahm das Gespräch über technische Ausbildung wieder auf mit dem überzeugenden Ton eines Dilettanten, der zwar die ganze wissenschaftliche Ausdrucksweise beherrscht, aber nur wenig wirkliche Kenntnisse besitzt. Er unterhielt den jungen Mann sehr freundlich, bis Vera wieder eintrat.
Ihr Wagen stand vor der Tür; Bray half beim Einsteigen.
»Mein Bruder hat Sie wohl sehr gut unterhalten?«
»Sehr.«
Sie blickte ihn an, um in seinem Gesicht zu lesen, und bemerkte dann mit einem Anflug von Spott: »Sie sind sehr leicht begeistert.«
Er lächelte. »Ich glaube, er versteht nicht viel von der Baukunst«, sagte er mit seiner wohltuenden Offenheit, die in diesem Fall besonders angenehm empfunden wurde.
Er fürchtete, sie gekränkt zu haben, weil sie nicht mehr sprach, bis der Wagen über die Westminsterbrücke rollte. Dann nahm sie das Gespräch wieder auf.
»Sie werden mit meinem Bruder wieder zusammenkommen. Er wird Ihre Wohnung ausfindig machen und Sie zum Lunch bitten. Lassen Sie mich einen Augenblick nachdenken.« - Sie zog die Stirn kraus. - »Ich versuche, mir zu vergegenwärtigen, was in ähnlichen Fällen geschah. Ja, so! Er wird Sie zum Lunch in seinen Klub einladen und wird Sie dahin bringen, von mir zu sprechen. Dann wird er Ihnen erzählen, daß ich furchtbar gern Schokolade esse, und nach einigen Tagen werden Sie von einem unbekannten Wohltäter eine Schachtel mit der köstlichsten Schokolade erhalten. Wenn Sie sich von Ihrem Erstaunen über das Geschenk erholt haben, werden Sie die Bonbonniere mit ein paar Zeilen natürlich mir schicken.«
Bray hätte beim Empfang einer solchen Sendung nicht erstaunter sein können, als er bei ihren Worten war.
»Wie merkwürdig, daß Sie so etwas sagen!«
»Warum merkwürdig?« fragte sie.
»Nun«, begann er zögernd, »er hat mich tatsächlich schon nach meiner Wohnung gefragt. Und dann … er erwähnte nicht bloß einmal, nein, zweimal, daß Sie - allerdings nicht Schokolade - sondern › verzuckerte Veilchen ‹ furchtbar gern äßen.«
Sie sah ihn etwas verblüfft an. »Wie gemein!« war alles, was sie im ersten Augenblick sagen konnte. Ein wenig später drehte sie sich auf ihrem Sitz herum, bis sie ihm voll ins Gesicht sehen konnte, und erklärte: »Wenn diese Veilchen ankommen, möchte ich Sie bitten, das Paket, so wie es ist, mit Verpackung, Verschnürung und Briefmarke Herrn King Kerry zu übergeben; er wird wissen, um was es sich handelt.«
»King Kerry?«
»Mögen Sie ihn nicht?« fragte sie schnell.
Er zögerte. »Ich denke doch, trotz seiner manchmal drastischen Methoden.« Else hatte ihm die Geschichte von ihrer
Weitere Kostenlose Bücher