0042 - Der Totenbeschwörer
verzog das Gesicht und schaltete einen Gang höher. »Ich weiß nicht so recht.«
»Elisa?« Wieder vernahm sie die Stimme des Verstorbenen. Diesmal jedoch hütete sich, ihre Gedanken auszusprechen. Sie formulierte die Antwort auf telepathischem Weg.
»Was willst du?«
»Komm zu mir, Elisa!«
»Aber du bist doch tot!«
»Nein und ja.« Pause. Dann: »Steig aus und geh zu meinem Grab. Ich erwarte dich dort.«
Elisa Hanson wunderte sich darüber, daß sie keinen Schrecken empfand, als der Tote mit ihr sprach. Sie nahm es fast als normal hin. Und sie mußte plötzlich an ihre Tochter Jill denken. Hatte sie nicht erzählt, daß jemand nach ihr rief?
Elisa tippte den Fahrer an. »Stopp bitte, Fred.«
Der Wirt war überrascht. »Jetzt?«
»Ja.«
»Aber wir sind doch noch gar nicht da.«
»Tu mir den Gefallen. Ich möchte den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen.«
Fred lachte auf. »Wie du willst.«
Er hielt an. Elisa bedankte sich noch einmal und stieg aus. »Dann bis später mal«, sagte Fred, fuhr an und rollte in Richtung Gatway. Im Innenspiegel sah er die Gestalt der Frau. Verloren stand sie dort und wurde kleiner und kleiner.
Elisa Hanson wartete, bis der Wagen um die nächste Kurve verschwunden war und schlug dann den Weg zum Friedhof ein. Der Wind hatte aufgefrischt. Kalt fuhr er von den Bergen herunter, und die kleine, zerbrechliche Frau mit den grauweißen Haaren schlug ihren Mantelkragen hoch. Während sie ging, stemmte sie sich gegen den Wind.
Elisa war allein auf weiter Flur. Kein Mensch hatte Lust, an diesem kalten Spätnachmittag noch aus dem Haus zu gehen, geschweige denn auf den Friedhof.
Auch der Totengräber hielt sich nicht mehr an seinem Arbeitsplatz auf. Er war bereits in den Ort gefahren, wo er wohnte. Jedenfalls sah das kleine Arbeitshaus sehr verwaist und abgeschlossen aus.
Die Frau erreichte den Friedhof. Sie blieb stehen und lauschte. Doch der alte Hanson meldete sich nicht mehr. Elisa machte sich keine Vorwürfe, daß sie nicht nach Hause, sondern zum Grab des Alten ging. Ihr Mann und die Kinder waren im Augenblick nur zweitrangig.
Das Tor des Friedhofs war nie abgeschlossen. Es diente nur zur Zierde.
Elisa betrat den neuen Teil des Geländes, schaute weit über die Gräber hinweg und sah an der gegenüberliegenden Seite das Licht durch die kahlen Äste schimmern. Dort lag ihr Haus, ihre Wohnung, wo sie eigentlich längst hätte sein sollen.
Statt dessen blieb sie auf dem Totenacker.
»Geh weiter bis zu meinem Grab, Elisa!« Da war die Stimme des Alten wieder, und Elisa gehorchte.
Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Die Dämmerung sank langsam über das Land und tauchte den Friedhof in ein seltsames Zwielicht. Elisa hatte plötzlich das Gefühl, als wären die Grabsteine und Kreuze von einem gespenstischen Eigenleben. Sie schienen vor ihren Augen zu tanzen und als Nebenfiguren durch die Luft zu schweben.
Die Frau wischte sich über die Stirn. Tief saugte sie die kalte Luft ein und konzentrierte sich wieder auf ihre eigentliche Aufgabe. Plötzlich verstand sie ihre Tochter und deren Friedhofssehnsucht. Fühlte sie sich nicht ebenfalls von der Grabstätte des Toten angezogen?
Noch schritt sie über den Hauptweg, doch schon bald bog sie ab, um zu den jüngeren Gräbern zu gelangen. Eiskrusten lagen auf den Rhododendronsträuchern. Die dünnen Zweige der Vogelbeerbäume bogen sich unter der schweren Schneeschicht. An manchen Kreuzen hingen Eiszapfen. Knochenhart war die Erde gefroren.
Irgendwo knackte es. Ein Ast, der in der Kälte brach. Geräusche waren überall. Ein ängstlicher Mensch hätte den Friedhof fluchtartig verlassen. Nicht Elisa Hanson.
Sie wurde erwartet.
Von einem Toten!
Es machte ihr im Moment nichts aus. Elisas Bewußtsein hatte sich in der letzten halben Stunde um einhundertachtzig Grad gedreht.
Schon sah sie die Grabreihe, in der die letzte Ruhestätte ihres Schwiegervaters lag.
Sie trat näher. Drei, vier Schritte trennten sie noch.
Plötzlich blieb sie ruckartig stehen.
Ihre Augen wurden groß. Sie starrte auf das Grab, runzelte die Stirn, und ein Stöhnlaut drang aus ihrer Kehle.
Das Grab war aufgebrochen. Feuchte Erde, mit Eisklumpen vermischt, häufte sich zu beiden Seiten des Grabes. Das meiste war wieder zurückgefallen, so daß der Sarg nicht zu sehen war.
Aber wo befand sich der Tote?
Plötzlich machte die Frau auf dem Absatz kehrt.
Sie zuckte zusammen, als nur einen Yard von ihr entfernt eine Gestalt stand.
Es war Myxin, der
Weitere Kostenlose Bücher