005 - Gekauftes Glück
verlebten frühen Jahre.
Sie schaute nach Süden und stellte sich vor, sie könne noch die sanften Ufer des Medway sehen, den sie, wie Mr. Adams bestätigt hatte, auf der Fahrt über die Downs erblickt hatte. Nicht viel weiter südlich lag Tunbridge Wells, wohin ihr Vater und ihr Bruder Patrick mit ihr, als sie fünf Jahre alt gewesen war, zu einer wundervollen Kirmes gefahren waren. In dieser Richtung lag auch Knole, das Heim von Freunden, die sie und die Eltern zu besuchen pflegten, während Penshurst Place, ein weiterer großer Landsitz, in dem sie einmal gewesen war, sich in einer ganz anderen Richtung befand, allerdings auch nicht sehr weit von Ravensford Hall entfernt.
Sogar die Luft war ihr, als sie dort unten auf der breiten, geschwungenen Auffahrt aus der Kutsche gestiegen war, vertraut erschienen. Sie entsann sich, daß Mr. Adams ihr einen seltsamen Blick zugeworfen hatte, nachdem sie einen Moment lang stehengeblieben war, die Augen geschlossen und tief durchgeatmet hatte, nur um den süßen, nostalgischen Geruch zu genießen. Es war eigenartig, nach all den Jahren hierher zurückgekehrt zu sein. In gewisser Hinsicht war es so, als habe ein Kreis sich geschlossen. Unwillkürlich fragte sich Ashleigh, welche weiteren Überraschungen durch die Wende in ihrem Dasein ihr noch bevorstehen mochten.
Sie wandte sich vom Fenster ab und schaute sich noch einmal lange im Zimmer um.
Der einzig schäbige Gegenstand war der kleine, abgenutzte Lederkoffer, den Megan ihr zum Einpacken ihrer wenigen Habseligkeiten geliehen hatte. Außerdem hatte die Freundin sich selbst übertroffen und ihr zum Abschied mit einem Teil der hart erworbenen Ersparnisse ein Geschenk gemacht - ein wunderschönes Tageskleid mit dazu passender Pelisse und Schute. Ashleigh blieb einen Moment vor der eleganten, an der Vorderseite geschwungenen Walnußkommode stehen und blickte in den darüber hängenden Queen-Anne-Spiegel. Hut und Kleid waren von einem herrlichen Kornblumenblau, und die Schute hatte, entsprechend den Volants am Rock, eine Doppelreihe blaßblauer Rüschen am Rand. Ashleigh lächelte ihr Ebenbild an und fand zu ihrem Erstaunen, daß sie recht hübsch aussah. Dann furchte sie die Stirn, wandte verwirrt den Blick ab und fragte sich, ob Gouvernanten hübsch sein durften, ob der Duke of Ravensford sie ebenfalls reizend finden und, falls es der Fall sein sollte, das nicht unpassend sein würde.
Sie hatte jedoch nicht mehr die Zeit, länger über ihr Aussehen nachzudenken, denn im nächsten Moment wurde
kräftig an die Tür geklopft. Ohne zu überlegen, reagierte sie in der Form, die in Hampton House üblich gewesen war, um jemanden zum Eintritt aufzufordern.
Madame hatte diese Anweisung erteilt, und die Aufforderung war stets in französischer Sprache gegeben worden. „Entrez!" rief Ashleigh.
Die Tür wurde geöffnet, und dann stand vor Ashleigh der bestaussehende Mann, den sie je erblickt hatte. Er war ungefähr sechs Fuß groß, hatte tiefkastanienbraunes Haar, das, der augenblicklichen Mode entsprechend, zu einer coup-de-vent-Frisur geschnitten war, und trug die aus einem gutsitzenden, modischen dunkelgrünen Reitjackett und enganliegenden rehbraunen Breeches bestehende Kleidung mit einer Haltung beiläufiger Selbstverständlichkeit, die weder von der unaufdringlichen, ruhigen Eleganz ablenkte noch sie über Gebühr betonte.
Es war jedoch sein männliches, ebenmäßig geschnittenes Gesicht, das Ashleigh beeindruckte. Er hatte eine hohe Stirn, eine gerade, schmale Nase und einen breiten, sinnlich wirkenden Mund. Die Lippen waren leicht nach oben gezogen und deuteten ein träges Lächeln an. Die Wangenknochen waren hoch und ausgeprägt; das eckige, energisch wirkende Kinn zeugte von Kraft und deutete vielleicht sogar eine Spur von Eigensinn an. Und dann waren da noch die Augen! Ashleigh hatte nicht gewußt, daß es Augen von solcher Farbe geben könne! Sie waren von einem ungewöhnlichen Blaugrün, von dichten Wimpern umgeben und leicht tiefliegend.
Ihr Ausdruck war irgendwie beunruhigend und dennoch bezwingend, und Ashleigh merkte, daß sie neugierig wurde auf die komplexen Geheimnisse, die sie in diesem unergründlichen Blick erahnte. Es waren die Augen eines Mannes, der viel gesehen und erlebt hatte, sich indes nach etwas mehr sehnte. Und mit dieser Sehnsucht war ein Hauch von Traurigkeit verbunden. Ashleigh war sicher, daß es Traurigkeit war, obwohl sie, falls jemand sie gefragt hätte, woher sie es wisse, nicht
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