005 - Tagebuch des Grauens
hinauflaufen und Suzanne in die Arme nehmen? Ich habe Angst. Ja, ich auch. Ich fürchte, dass ich jetzt ebenfalls die schrecklichen Dinge sehen werde, die bisher nur sie allein erblickt hat.
Ich bin feige. Zum ersten Mal im Leben bin ich feige.
Vielleicht ist die Müdigkeit daran schuld. Ich war noch nie so erschöpft. Ich habe nur noch den einen Wunsch, mich auszustrecken und an nichts mehr zu denken.
Suzanne. Im Geist sehe ich sie vor mir, wie sie im Bett in die Höhe fährt, zitternd vor Angst, und sich der Dinge zu erwehren sucht, die sie sieht.
Gleich werde ich zu ihr hinaufgehen. Gleich.
Ich mache die Küchentür hinter mir zu und schiebe den Riegel vor. Im ersten Stock ist jetzt alles still. Anscheinend ist Suzanne wieder eingeschlafen.
Ich muss Licht machen. Endlich will ich wieder Helligkeit um mich haben.
Rasch knipse ich die Tischlampe an. Der Raum liegt in sanftem Licht vor mir, und die Helligkeit vertreibt schlagartig alle Schrecken, die mich quälten.
Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen. Völlige Erschöpfung hat von mir Besitz ergriffen. Regungslos blicke ich die Lampe an, die so wohltuende Helligkeit verbreitet.
Im Kamin, wenige Schritte von mir, verglimmen die Scheite. Ab und zu schießt eine Funkengarbe empor, und ich fahre zusammen. Ungeheure Erleichterung erfüllt mich. Ich fühle mich wohl.
Erstaunlich, dass plötzlich alles Leid von mir abgefallen ist. Das Feuer, das Licht, die Wärme – das alles tut unendlich gut. Das Blut strömt mir wieder durch die Adern, meine Hände verlieren ihre eisige Starre.
Ich denke an alles, was mir zugestoßen ist, seit ich das Haus verlassen habe. Ich habe Michel also nicht getötet. Er kann sein Verderben bringendes Werk ungehindert fortsetzen.
Warum hat er nicht in seinem Bett gelegen? Was hatte er wieder ausgeheckt? Ich hatte den Eindruck, dass er im Zimmer war und beobachtete, wie mich Panik erfasste. Das alles ist unbegreiflich, und dennoch suche ich nach einer Erklärung dafür.
Vielleicht hat er seine Seele dem Teufel verschrieben. Bestimmt hat der Teufel ihn retten können. Nur er hat meinen Plan, Michel zu töten, vereiteln können.
Allmählich klären sich meine Gedanken. Die Nebel der Ängste sind gewichen, und ich kann wieder vernünftig nachdenken.
Die wichtigste Frage: Werde ich mein Vorhaben nun aufgeben?
Wenn ich mir vorstelle, dass ich dasselbe wie heute Nacht noch einmal erleben soll, erfasst mich Entsetzen. Und dennoch … Michel darf nicht weiterleben. Michel muss verschwinden.
Ein Opfer wird ihm sicher nicht genügen. Wenn Suzanne »gegangen« ist, werde ich sein nächstes Opfer sein.
Ich? Ja, sicher. Hat er nicht heute Nacht schon die ersten Schritte auf diesem Weg gemacht? Bestimmt hat er gewusst, dass ich da war. Er hat mich in die Flucht getrieben.
Gut, diesmal hat er gewonnen. Aber ich werde einen neuen Versuch unternehmen. Und dann werde ich vorsichtiger sein. Ja, ich werde es noch einmal versuchen. Bald. Sobald wie möglich. Morgen.
Morgen, und zwar am Tag. Ich werde mich nicht noch einmal solchen nächtlichen Schrecknissen aussetzen. Am Tag bin ich der Stärkere. Ja, ich werde siegen. Und damit werde ich vielleicht Suzanne retten.
Morgen werde ich mich für die Niederlage rächen, die ich heute Nacht erlitten habe. Michel wird bezahlen müssen für alles, was er mir angetan hat.
Und für alles, was er Suzanne angetan hat.
Mein Atem geht wieder normal. Ich habe mich beruhigt. Doch schon taucht ein neuer, besorgniserregender Gedanke auf. Im Geist sehe ich den gespenstischen Mund vor mir, die Zähne, die mich im Dunkel bedrohten.
Ja, sie bedrohten mich. Die Zähne schienen mich zerreißen zu wollen. Wem gehörte dieser Mund? Was war das für ein seltsames Wesen, das im Haus von Michel spukte und sich auf so schauerliche Weise bemerkbar machte?
Hat Michel die teuflischen Zähne auch schon einmal gesehen? Weiß er, was in seinem Haus vorgeht?
Ich habe noch nie eine solche Erscheinung erblickt und möchte gern mehr darüber wissen. Und vor allem möchte ich wissen, ob man den Kampf gegen so etwas aufnehmen kann, oder ob man von vornherein zur Niederlage verurteilt ist.
Im Zimmer über mir ist noch immer alles still. Sogar der Wind scheint inzwischen leiser geworden zu sein. Er heult zwar noch immer, aber in gedämpfterem Ton. Auch das Ächzen der Bäume ist nicht mehr so deutlich zu hören wie vorher.
Immer wieder muss ich an die furchtbare Erscheinung denken. Der Mund öffnete sich, als wollte er
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