005 - Tagebuch des Grauens
Wenn ich mich aufrichten und hinsehen würde, sähe ich ihn bestimmt.
Was war das? Ein Knirschen. Ging irgendwo im Haus eine Tür? Oder waren es die grässlichen Zähne?
Ich weiß, dass sie da sind. Ich weiß es ganz gewiss. Soll ich mich umsehen?
Nein, ich will sie nicht sehen. Ich will diesen grauenhaften Anblick nicht noch einmal ertragen müssen. Es wäre zu viel für meine gepeinigten Nerven.
Aber woher will ich wissen, dass die Erscheinung da ist, wenn ich nicht hinsehe? Ist die Ungewissheit nicht schlimmer als alle Schrecken, die mir ihr Anblick einflößen wird?
Ich muss an etwas anderes denken. Aber an was? An Suzanne. Ich sehe sie vor mir. Ihr Gesicht wird immer größer, und jetzt sehe ich ihre Zähne vor mir, die sich knirschend aufeinander pressen.
Entsetzlich!
Nun höre ich jemanden atmen. Leise, regelmäßige Atemzüge. Es sind nicht meine, und doch ist außer mir niemand im Raum. Der Atem kommt aus dem Mund, der hinter meinem Rücken schwebt. Wenigstens scheint es mir so. Oder bilde ich es mir nur ein?
Wie lange sitze ich jetzt schon hier? Eine Ewigkeit scheint mir vergangen zu sein, aber es kann sich nur um wenige Minuten handeln.
Jetzt höre ich wieder den Atem und das Zähneknirschen. Die Geräusche kommen von einer Stelle über dem Kamin. Sie sind so laut, als wollte der Mund absichtlich meine Aufmerksamkeit erregen.
Langsam, ganz langsam hebe ich den Kopf von den Armen. Ich muss einen Blick zum Kamin werfen. Ich muss! Aber noch widerstehe ich, so schwer es mir auch fällt.
Mein Blick wandert über den Tisch. Ich halte die Lider noch gesenkt. Jetzt sehe ich den Fußboden und den unteren Rand des Kamins vor mir.
Mein Blick wandert weiter. Nichts hält ihn auf. Es ist, als ob er nicht mehr meinem Willen unterläge. Er hat sich selbständig gemacht.
Jetzt wandert er am Kamin empor. Noch haftet er an den glühenden Scheiten, aber er steigt weiter hinauf, immer weiter. Ich möchte ihn zurückhalten, aber es gelingt mir nicht.
Nein, ich will mir beweisen, dass ich noch meinen freien Willen habe. Ich darf nicht die Nerven verlieren. Ich muss vernünftig sein.
Mein Blick wandert weiter.
Heult der Wind draußen noch? Ich höre ihn nicht. Alle meine Sinne sind auf meinen Blick konzentriert, der langsam zum Kaminsims empor wandert.
Jetzt hat er das Kupfergeschirr erfasst, das Suzanne dort aufbewahrt. Der Fuß des Kerzenhalters, die Kerze selbst …
Bin ich schon soweit? Was ist dort der helle Fleck, dort …
Der Mund! Die Zähne! Hell und glänzend leuchten sie mich an.
Ich wende den Blick hastig ab. Der Mund öffnet sich und lacht.
Das macht mich rasend. Ich könnte heulen vor Wut.
Der Mund beginnt zu sprechen. Aber es ist eine seltsame Sprache. Ich verstehe sie nicht. Nur Laute höre ich, die ich zu keinem Sinn zusammenfügen kann.
Die seltsamen Klänge tun meinen Ohren weh. Dann kommt wieder ein teuflisches Lachen.
Jetzt schließt sich der Mund. Die Zähne knirschen.
Die Helligkeit der Erscheinung lässt nach. Dann vergeht sie. Der unerklärliche Vorgang ist beendet.
Immer noch stehe ich wie erstarrt da und blicke auf die Stelle, an der soeben noch der Mund zu sehen war.
Und wieder beginne ich zu zittern. Ich öffne den Mund zu einem Schrei, um den Klang meiner Stimme zu hören, aber es dringt nur ein schwacher, krächzender Laut aus meiner Kehle.
Ich bin wieder allein in der Küche und bemühe mich, ruhig zu werden. Ich muss mich zusammennehmen. Habe ich geträumt, oder habe ich wirklich diese grauenvolle Erscheinung gesehen?
Eine Funkengarbe, die aus einem Holzscheit auffährt, reißt mich in die Wirklichkeit zurück. Erschöpft trete ich zum Tisch und lasse mich auf einen Stuhl sinken. Ich bin erledigt.
Meine Hand greift nach der Flasche. Ich muss einen Schluck Alkohol trinken, damit mir wieder warm wird. Eisige Kälte sitzt mir in den Gliedern.
Es ist eine Kälte, die vielleicht schon die Erstarrung des Todes ist.
Der Alkohol rinnt mir wie Feuer durch die Kehle. Angenehme Wärme durchfließt meine Adern. Ein wohltuendes Gefühl. Regungslos sitze ich da.
Was soll ich tun? Wird die Erscheinung mich weiter verfolgen? Vielleicht taucht der grauenhafte Mund das nächste Mal ganz in meiner Nähe auf?
Ein Schauder durchläuft mich. Was soll ich tun, wenn …? Nein, daran will ich nicht denken. Ich werde hier in der Küche bleiben, ganz allein. Suzanne ist im ersten Stock, und sie ahnt nicht, was ich soeben erlebt habe.
Aber warum soll ich nicht zu ihr hinaufgehen?
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