005 - Tagebuch des Grauens
Es gibt keinen Grund dafür, dass ich hier bleibe, fern von ihr.
Noch ein Glas Schnaps, gefüllt bis zum Rand. Ich leere es in einem Zug. Noch nie habe ich so gierig Alkohol getrunken.
Meine Erregung klingt ab, und ich bekomme wieder einen klaren Kopf. Ich hefte den Blick auf die Stelle, an der ich soeben den Mund gesehen habe, dort wo er die unverständlichen Laute ausstieß.
Ich muss genau Bescheid wissen. Diese Ungewissheit kann ich nicht ertragen. Nun schiebe ich den Stuhl an den Kamin, steige hinauf und berühre mit der Hand die Stelle, an der ich den Mund gesehen habe. Mit der Faust schlage ich dagegen, als wolle ich mich rächen für den Schrecken, den ich erlitten habe, als wolle ich ausradieren, was ich gesehen habe.
Die Mauer ist dick und massiv, wie der Ton meiner Schläge beweist.
Ich fange an zu zweifeln. Habe ich die Erscheinung wirklich gesehen?
Ich habe doch einen ganz klaren Kopf, meine Gedanken sind keinesfalls verwirrt. Noch nie habe ich etwas Ähnliches erlebt. Nie habe ich auch nur die geringste Halluzination gehabt. Mein Leben ist bisher in völlig ruhigen Bahnen verlaufen.
Was ist geschehen, dass plötzlich alles anders ist?
Ich entscheide, dass ich die Erscheinung nicht wirklich gesehen habe. Es war nur eine Halluzination. Weiter nichts. Diesen Gedanken wiederhole ich mir immer wieder, um gar keinen Zweifel mehr daran aufkommen zu lassen.
Wahrscheinlich hat Suzannes Zustand diese Erscheinung bei mir heraufbeschworen. Sie sieht anscheinend wirklich alles, wovon sie spricht – nämlich Hände, die sich nach ihr ausstrecken, und Arme, die sie umklammern und deren Berührung ihr widerlich ist.
Langsam sind diese Vorstellungen auch auf mich übergegangen. Daher habe ich mir plötzlich eingebildet, etwas Ähnliches zu sehen.
Ja, das ist die Erklärung. Eine andere gibt es nicht. Es kam alles sicher dadurch, dass ich Suzannes Aufzeichnungen gelesen habe. Ich hätte den Inhalt des Heftes, das ich jetzt schon stellenweise auswendig kenne, nicht lesen sollen. Bei der Lektüre habe ich ihr ganzes gequältes Leben in mich aufgenommen. Bruchstücke von ihren Eindrücken haben sich tief in meine Seele geprägt.
Ich muss das Heft vernichten. Sobald wie möglich. Wo ist es eigentlich? Ja, richtig. Im Schlafzimmer, im Kommodenschubfach, unter ihrer Wäsche.
Es muss vernichtet werden. Ich werde es verbrennen. Mit den Flammen wird auch sein böser Zauber vergehen.
Vielleicht lese ich es zuvor noch ein letztes Mal. Ja, ich werde es noch einmal lesen, um meinen Entschluss zu festigen, Michel zu töten.
Michel. Plötzlich sehe ich ihn so lebhaft vor mir, als hätten meine Gedanken seine leibhafte Gegenwart heraufbeschworen.
Ich werde ihn töten. Aber wann? So bald wie möglich. Morgen.
Jetzt bin ich wieder ganz ruhig. Ich habe mich völlig in der Gewalt. Es fehlt nicht viel, und ich würde laut herauslachen über alles, was ich erlebt habe. Doch nein, ich weiß nur allzu gut, dass ich es nicht fertig bringe, über das Entsetzliche zu lachen, das ich gesehen habe.
Ich werde ins Schlafzimmer hinaufgehen und das Heft holen. Anschließend komme ich wieder herunter, lese es rasch und werfe es ins Feuer.
Suzanne ist zu schwach, um es von mir zurückzuverlangen. Sie wird den morgigen Tag im Bett verbringen. Sie hat nicht mehr die Kraft, zu schreiben. Und was sollte sie auch noch weiter in ihrem Heft vermerken?
Ja, das werde ich tun. Schwerfällig erhebe ich mich. Hier in der Küche ist es schön warm, oben dagegen herrscht Kälte.
Plötzlich fahre ich zusammen. Mein Herz beginnt wie rasend zu klopfen.
Auf dem Tisch sehe ich eine Hand, eine Hand ohne Arm. Ganz klar und deutlich sehe ich sie. Die Adern, die Nägel, die Finger …
Ich kann den Blick nicht von ihr wenden. Langsam, mit gekrümmten Fingern, bewegt sie sich vorwärts. Sie sieht aus wie ein großes, grausiges Insekt.
Ob ich es fertig bringe, sie zu berühren, sie zurückzustoßen?
Warum nicht? Vielleicht kann ich sie ins Feuer werfen.
Aber das ist nicht so einfach. Meine Arme wollen mir nicht mehr gehorchen.
Wie ist es möglich, dass sich auf dem Tisch eine Hand bewegt, eine Hand ohne Arm? Mein Kopf ist doch ganz klar. Doch nein, plötzlich ist alles wieder da, die Angst, das Grauen. Ich kann die Hand nicht einfach auf dem Tisch herumkriechen lassen. Sie bewegt sich schnell, kommt auf mich zu.
Ich renne auf die andere Seite des Tisches. Die Hand macht kehrt und kommt wieder auf mich zu.
Im Geist gebe ich mir einen Befehl. Ich werde
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