005 - Tagebuch des Grauens
Taschentuch.«
Sie dreht sich um und fällt wieder in unruhigen Schlummer.
Da ist das Heft. Ein ganz gewöhnliches Schulheft. Ich nehme es heraus. Warum hat sich Suzanne wohl die Mühe gemacht, alles aufzuschreiben, was sie empfunden hat?
Vielleicht war es als Botschaft gedacht. Eine Botschaft, die sie mir hinterlassen wollte, damit ich verstehe, was vorgefallen ist. Vielleicht hoffte sie, dass ich sie rächen würde.
Keine Angst, Suzanne, das tue ich. Bald wirst du gerächt sein. Meine Finger schließen sich um das Heft. Suzanne richtet sich im Bett halb auf.
»Was machst du?« fragt sie.
»Nichts.«
»Warum bist du denn angezogen?«
»Komm, schlaf weiter.« Was sollte ich ihr für eine Erklärung geben?
»Pierre, sag, was hast du vor?«
Ihr brennender Blick fällt auf meine Hand. Sie erkennt das Heft, ihr Heft.
Wird sie aufstehen? Nein. Ihr Blick geht über meinen Kopf hinweg. Sie sieht mich gar nicht mehr. Etwas anderes hat ihre Aufmerksamkeit völlig in Anspruch gekommen.
Tränen rinnen über ihre mageren Wangen. Sie beginnt zu keuchen. Ihr Gesicht verzerrt sich zu einer Grimasse des Entsetzens. Die Qual macht ihre Züge fast unkenntlich.
Sie spricht eine Sprache, die ich nicht verstehe. Was sagt sie?
Und mit wem spricht sie?
Ich sehe mich suchend um, aber ich weiß von vornherein, dass ich nichts erblicken werde.
Suzanne jammert, schlägt mit den Armen um sich, um eine unsichtbare Gegenwart abzuwehren, und schreit auf: »Gnade!«
Hilflos stehe ich da und weiß nicht, gegen was ich sie verteidigen soll. Und ich weiß auch nicht, wie ich es tun könnte.
Sie windet sich vor Qual auf dem Bett, kämpft mit dem Unbekannten, das ich nicht sehen kann, und spricht in einer mir unverständlichen Sprache.
»Nein! Nein!« Das ist das einzige, was ich verstehe.
Dann wieder Jammern und Stöhnen und das Wort: »Gnade!«
Am liebsten würde ich mir Augen und Ohren zuhalten. Vor allem möchte ich ihre gequälte Stimme nicht mehr hören, die mir das Herz zerreißt. Das böse Wesen, das sie peinigt, ist da, Suzanne kämpft gegen den unbekannten Feind mit all ihren schwachen Kräften an, doch schließlich sinkt sie ermattet in die Kissen zurück.
Mich überkommt eine furchtbare Versuchung. Soll ich sie vielleicht erwürgen? Dann hätte sie es überstanden und müsste nicht mehr leiden.
Nein, diesen Gedanken weise ich sofort zurück. Wer konnte mir eine solche Idee eingegeben haben? Es schien mir tatsächlich soeben, als hätte mir jemand ins Ohr geflüstert:
»Erwürge sie … Erwürge sie …«
Wer hat das gesagt? Wo versteckt sich der teuflische Sprecher?
Es ist Michel. Davon bin ich überzeugt. Er und kein anderer hat mich auf diesen schrecklichen Gedanken gebracht.
Suzanne ist ohnmächtig geworden. Rasch trete ich zu ihr. Ich muss sie aus ihrer Besinnungslosigkeit reißen, muss ihr helfen, dass sie zu sich kommt.
Doch schon richtet sie sich wieder auf. Sie fährt im Bett hoch, und ihr schriller Entsetzensschrei lässt mir fast das Herz stillstehen.
Ich halte mir die Ohren zu, doch es nutzt nichts. Ihre Schreie zerreißen mir fast das Trommelfell und das Herz obendrein.
Endlich ist es zu Ende. Suzanne ist in die Kissen zurückfallen. Ihr hastiger Atem beruhigt sich rasch. Bald ist er fast normal.
Ich fahre ihr mit der Hand über die Stirn. Sie ist eiskalt.
Plötzlich höre ich deutlich Atemzüge hinter mir. Der Unsichtbare ist wieder da. Ich spüre seine Gegenwart.
Dann ist es wieder still. Die Atemzüge sind nicht mehr zu hören. Er ist in das geheimnisvolle Reich zurückgekehrt, aus dem er gekommen ist.
Warum habe ich gesagt »er«? Ist es nicht vielmehr »es« – das Ungeheuer, das Suzanne sieht und das sie so quält?
Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts. Mein Hirn ist wie leer gebrannt. Die unheimlichen Vorgänge haben meine Vernunft gelähmt.
Das Heft. Was steht darin? Ich habe es doch genau gewusst, und jetzt kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Ich muss es noch einmal lesen.
Suzanne ist eingeschlafen. Im Augenblick hat sie Ruhe. Aber wie lange?
Auf leisen Sohlen kehre ich in die Küche zurück. Der Lampenschein und das wärmende Feuer tun mir gut. Ich lege ein paar Scheite nach. Die Flammen züngeln hoch empor.
Ich beginne zu lesen, den Kopf in die Hände gestützt.
4. Januar.
Warum haben wir bloß die Einladung von Michel angenommen! Ich habe es gewollt, und das war ein Fehler. Es wäre besser gewesen, wenn ich auf Pierre gehört hätte. Doch jetzt ist es
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