0053 - Der Hexer aus der Todeszelle
kein Glück, was?«
Santana entließ ihn mit einem freundschaftlichen Kopfnicken. Zamorra kehrte zu seinem Platz zurück. Eine wichtige Hürde war genommen. Wer Santanas Wohlwollen genoss, dem brachten automatisch auch alle anderen Häftlinge ihr Vertrauen entgegen. Auf diese Weise hoffte der Professor, am schnellsten die Namen von Lymans Mördern herauszukriegen. Auf dem Bildschirm: Wirbelndes Finale.
Fred Astaire und Ginger Rogers steppten um die Wette. Ein Feuerwerk an Temperament und Tanzleidenschaft wurde von den beiden abgebrannt. Nach dem Film gab’s Abendbrot. Um neun gingen Zamorra und Leif Cannon zu Bett. Um zehn wurde das Licht ausgemacht.
»Na!«, flüsterte Cannon unter dem Professor.
Zamorra reagierte nicht darauf. Doch Cannon ließ sich nicht so schnell entmutigen.
»He!«, rief er leise. »Zamorra!«
»Ist noch was?« fragte der Professor.
»Wie ging’s mit Santana?«
»Bestens.«
»Hast du dich mit ihm angefreundet?«
»Hast du was anderes erwartet?« erwiderte Zamorra. »Ich glaube, er mag mich.«
»Genau kann man das bei dem aber nie wissen. Sei trotzdem vor ihm auf der Hut! Er kann jederzeit umschlagen wie das Wetter im Hochgebirge.«
»Ich werd’ mir’s merken«, sagte Zamorra.
Pause. Der Professor drehte sich auf die linke Seite und schaute die Mauer an.
»Habt ihr über Lyman gesprochen?« wollte Leif Cannon wissen.
Zamorra spitzte die Ohren. Weshalb interessierte Cannon das? Er antwortete: »Nein.« Und fragte: »Wer hat Lyman umgebracht, Leif?«
»Weiß nicht!«, kam es knapp zurück.
»Wirklich nicht?«
»Wenn ich’s doch sage! Und ich bin froh, dass ich es nicht weiß.«
»Wieso?«
»Weil viel wissen ungesund ist!«, erwiderte Cannon und wollte über dieses Thema kein weiteres Wort mehr verlieren. Deshalb zischte er: »Schlaf jetzt.«
»Okay«, murmelte Zamorra. »Vorausgesetzt, Carl Lyman hat nichts dagegen.« Der Professor hörte, wie Cannon daraufhin unter ihm erschrocken zusammenzuckte.
***
Es war eine rabenschwarze, kühle Nacht. Der Mond versteckte sich hinter schweren Wolkensäcken, die anthrazitfarben am sternlosen Himmel hingen. Ein heftiger Wind fauchte um die Gefängnismauern und jaulte und wimmerte in irgendwelchen Mauerritzen und Fugen unterhalb des Daches. Lyman kam durch die meterdicke Mauer, die den riesigen Gefängniskomplex einfriedete. Die Wachen auf den Türmen sahen ihn nicht. Er hob sich von der Dunkelheit mit seiner roten Kutte kaum ab.
Ohne ein Geräusch zu verursachen, huschte er durch den Gefängnishof. Vom höchsten Wachturm stach der grelle Lichtfinger des rotierenden Scheinwerfers für einen kurzen Augenblick in Lymans Richtung. Der Hexer drehte sich dem Lichtkegel zu und blieb stehen. Der Strahl traf voll in die finstere Höhle, die die Kapuze bildete.
Für den Bruchteil einer Sekunde war das Gesicht des Hexers zu sehen. Es sah grauenvoll aus. Santanas Schlagring hatte es völlig verwüstet. Das Nasenbein war gebrochen. Die Haut war überall aufgeplatzt. Teilweise lag der bleiche Schädelknochen blank…
Sekunden später war das Licht des Scheinwerfers wieder weiter gewandert. Niemandem war aufgefallen, was für einen abstoßenden Anblick es soeben enthüllt hatte.
Lyman glitt an der Gefängnismauer entlang und betrat kurz darauf den Zellentrakt. Wieder schritt er einfach durch die geschlossene Tür, als wäre sie nicht vorhanden.
Er eilte den Korridor entlang. Ein Aufseher goss soeben heißen Tee aus der Thermosflasche in einen Becher und schlürfte ihn dann mit gekräuselter Stirn. Lyman starrte den Mann mit seinen rotglühenden Augen kurz an, wandte sich dann von ihm ab und eilte weiter.
Er war nicht wegen dieses Aufsehers hierher gekommen. Sein Ziel war eine Zelle im zweiten Stock. Ohne dass ihn jemand entdeckte, erreichte er die erste Zellenetage. Zwei Männer schritten nebeneinander die Zellenfront ab.
Carl Lyman schaute sich schnell um, trat dann hastig in einen Raum und wartete, bis die Aufseher vorbeigegangen waren. Ohne Eile verließ er den Raum wieder. Mit wenigen Schritten war er bei der Treppe, die zur zweiten Etage hinaufführte. Er schwebte über die Stufen.
Leif Cannon schien ein Geisterradar eingebaut zu haben. Vermutlich hatte er noch nicht tief genug geschlafen. Jedenfalls spürte er sofort die Nähe des Hexers. Er warf sich verzweifelt im Bett hin und her.
Er hatte höllische Angst. Er presste sich die Decke an den Mund, grub seine Zähne in die grobe Wolle hinein, damit ihm kein Schrei über die Lippen
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