0055 - Die Nacht der gelben Kutten
Shandri zu schweigen. Zamorra hatte die Augen dicht geschlossen. Und jetzt kamen die ersten Worte, die von seinem Amulett ausgingen.
»Du wirst…«, hörte Zamorra. Er stand schweigend und wartete.
Dann hörte er die Stimme des Amuletts deutlicher.
»Du wirst… sie finden … bei den gelben Mönchen … du wirst sie finden, und sie sind selber gelbe Mönche … aber sie haben … den Tempel hinter den stürzenden Wassern …«
Dann war die Stimme verklungen.
Zamorra wartete noch. Aber das Amulett schien mit seiner geheimnisvollen Auskunft am Ende zu sein.
Du wirst sie finden. Zamorra dachte nach. Waren die Mädchen gemeint, die verschwunden waren? Wurden sie von den gelben Mönchen gefangen gehalten? Würde er die Mädchen und die gelben Mönche finden? Gelbe Mönche gab es hier überall. Keine Frage also, daß die Stimme des Amuletts von den falschen gelben Mönchen gesprochen hatte. Es meinte die Gelben Furien des Shuri!
Und was die stürzenden Wasser zu bedeuten hatten, wußte Zamorra auch.
Langsam löste sich seine Spannung. Er ging auf Nicole und Shandri zu.
»Wo liegt der Wasserfall?« fragte er kurz.
»Wie, Herr?« fragte Shandri ganz verwirrt. »Hier gibt es keinen Wasserfall. Mein Vater würde ihn kennen, er hätte mir davon erzählt.«
»Es gibt einen Wasserfall«, sagte Zamorra. »Es gibt einen, ich weiß es. Und ich weiß auch, daß hinter ihm der geheime Tempel der Shuris liegt. Und dort sind die Töchter der Rajas, deines Herrn, gefangen. Wir müssen uns beeilen, den Wasserfall zu finden.«
»Du wirst ihn nicht finden, Herr«, sagte Shandri. »Niemand kennt ihn. Man wüßte davon. Und wenn es ihn gibt, dann nur mitten im dichten Dschungel. Dann gehört er den Geistern der Shuris. Niemand wagt, den Fuß dorthin zu setzen.«
»Dann werden wir drei die ersten sein, die es tun«, sagte Zamorra entschieden. »Komm, Shandri, wenn du keine Angst hast.«
»Nicht vor den Shuris«, sagte er mit Bestimmtheit und ließ seine großen, dunklen Pupillen rollen. Zamorra wußte, daß er im Ernstfall einen tüchtigen Mitstreiter haben würde. Der junge Tamile hatte den Löwenmut seiner Vorfahren geerbt. Sie stiegen weiter in den dichten Regenwald, kletterten über umgestürzte Bäume, wateten durch knietiefe Schlammlöcher. Sie gingen eine halbe Stunde, eine ganze Stunde, dann waren es schon neunzig Minuten. Tropfende Bäume, regennasser Wald, das schrille Geschrei von Affen, in der Tiefe das dumpfe Brüllen der Wasserbüffel. Sonst nichts.
»Es gibt keinen Wasserfall«, sagte Shandri und blieb schnaufend stehen.
»Es gibt einen«, entgegnete Zamorra und stieg vor ihm weiter in die dunkler werdende Tiefe des Regenwaldes.
Und dann zerriß ein entsetzlicher Schrei die Stille.
Es war ein Schrei wie der am gestrigen Abend!
»Ob Wasserfall oder nicht«, sagte Zamorra. »Auf jeden Fall sind wir den Shuris auf der Spur. Kannst du noch, Nicole?« fragte er besorgt.
»Ich kann noch«, sagte Nicole Duval und lächelte ihren Freund und Meister an, als wäre sie nur eben die paar Stufen zum Sacre Coeur in Paris hinaufgestiegen.
Zamorra lächelte zurück. Aber dann wich dieses Lächeln sofort aus seinem Gesicht und machte dem energischen Ausdruck einer kühnen Entschlossenheit Platz.
Zamorra fühlte, daß er seinem Ziel nahe war. Nun konnte ihn nichts mehr halten. Erbarmungslos würde er alle Kräfte einsetzen, um die Shuris zu überwinden und die geraubten Mädchen zu befreien.
Ganz unvermittelt und völlig unerwartet öffnete sich der dichte Tropenwald vor ihnen. Und auf der anderen Seite des Berges stürzte vor ihren Augen ein mächtiger Wasserfall in die Tiefe.
»Da!« sagte Zamorra nur.
»Dort kann es keinen Tempel geben«, bemerkte Shandri. »Ich nehme an, es hat sich jemand zu weit an den Rand des Wasserfalls gewagt und ist hinabgestürzt.«
Aber Zamorra war anderer Meinung. Wenn jemand gestürzt war, dann hatte man ihn hinabgestürzt. Oder es war etwas anderes geschehen.
Ich werde es herausfinden, dachte er.
***
Manika hatte sich bald an das leichte Schwanken der Hängebrücke gewöhnt. Mit sicheren Schritten trat sie von Sprosse zu Sprosse. Mit ihren Händen hielt sie sich einmal an dem Geländer aus Lianen fest, zum anderen fühlte sie immer den sicheren Griff Bataks.
Als sie in der Mitte der Brücke angelangt waren, ließ Batak ihre Hand plötzlich los.
»Ich habe dir die Brücke gezeigt«, hörte das Mädchen Batak hinter sich sagen. »Jetzt zeige ich dir das zweite, das ich dir
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