006 - In der weißen Hölle
dieses furchtbare Gebrüll nicht gehört…«
»Gebrüll?« Yorl hob die Brauen. »Etwa so wie dieses hier?« Der Älteste griff nach einem der zahllosen Gegenstände, die von seinem breiten Ledergürtel baumelten, und hob ihn an seine Lippen. Das Ding sah aus wie eine verbeulte Trompete, die aus Hörn geschnitzt zu sein schien.
Yorl blies nicht hinein, er brüllte hinein - und im nächsten Moment erfüllte ein schreckliches, unmenschliches Kreischen die Hütte.
Es war unverkennbar das Wutgebrüll des Narka-to -und es klang so echt, dass Matt eine Gänsehaut davon bekam!
»Nun?«, fragte der alte Mann, nachdem er das scheußliche Instrument wieder abgesetzt hatte.
»W… was hat das zu bedeuten?«, fragte Matt verdutzt.
»Komm mit mir«, forderte Sam ihn auf und zog am Ärmel seines Overalls. Verblüfft folgte er der jungen Frau nach draußen. Er stellte fest, dass er sich in einem Dorf befand, dessen gedrungene kuppelförmige Hütten von einem gewaltigen Überhang aus Fels überragt wurden.
***
Die Dorfbewohner - allesamt kleinwüchsige gedrungene Gestalten, die die Evolution an das raue Leben in den Bergen angepasst hatte - hielten in ihrer Arbeit inne, starrten verblüfft auf den Fremden.
Matt mied ihre Blicke, hatte damit zu tun, der jungen Frau zu folgen, die ihn quer durch das Dorf zu einer Hütte führte, die größer war als alle anderen.
»Geh hinein«, forderte sie Matt auf. »Dort wirst du finden, was du suchst…«
Zögernd trat Matt auf den Eingang der Hütte zu. Dabei hatte ein mieses Gefühl im Bauch. In letzter Zeit hatte er zu oft unangenehme Überraschungen erlebt, als dass er Sams Aufforderung einfach gefolgt wäre.
»Was ist mit meinen Waffen?«, fragte er.
»Du wirst sie nicht brauchen«, versicherte Sam. Trauer schwang dabei in ihrer Stimme mit. »Nicht mehr…«
Matt fasste sich ein Herz, schlug den Ledervorhang, der den Eingang der Hütte verschloss, beiseite und trat ins schummrige Halbdunkel, das dahinter herrschte.
Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen an die spärlichen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Dann sah er im Dunkel zwei glitzernde kalte Augen, messerscharfe Fänge, die in einem schrecklichen Maul klafften.
Entsetzt sprang er zurück, als er die riesenhaften Konturen des Monstrums gewahrte, das im Halbdunkel vor ihm stand.
Es war der Narka-to!
Seine bloße Körpergröße mochte an die drei Meter betragen, seine Postur glich der eines Gorillas. Sein weißes Fell war lang und zottig, die Pranken mit mörderischen Krallen bewehrt. Er stank nach Tod und Fäulnis.
Dann, als er seinen ersten Schreck überwunden hatte, wurde Matt klar, dass die Bestie sich nicht bewegte. Verblüfft trat er näher darauf zu, blickte in die kalten Augen des Raubtiers - und stellte fest, dass kein Leben mehr in ihnen war.
Der Narka-to war tot!
Verblüfft umrundete Matt die Bestie, sah, dass der riesige Torso des Tieres auf ein Holzgestell montiert war, das Räder besaß.
Über einen Mechanismus, der sich im Rücken des Monstrums befand, konnten die Arme mit den Pranken auf und ab bewegt werden.
»Zum Henker«, entfuhr es Matt, »was hat das zu bedeuten?«
»In unserer Sprache heißt Narka-to 'Beschützer der Narka'«, erklärte Sam, die unbemerkt eingetreten war und ehrfürchtig an dem mächtigen Tier emporblickte. »Viele Generationen lang war der Narka-to der Schutzherr unseres Volkes. Er schlug unsere Feinde in die Flucht, wandte Schaden von uns ab und sorgte dafür, dass wir in Frieden leben konnten.«
»Was ist passiert?«, fragte Matt, der ahnte, dass viel mehr hinter dieser Sache steckte, als er zunächst angenommen hatte.
»Er starb«, eröffnete Sam schlicht. »Nachdem er viele Menschenalter lang der Beschützer der Narka gewesen war, starb der Narka-to.«
»Verstehe. Und woran ist er gestorben?«
»Er war alt«, gab die junge Frau zurück.
»Wudan hat ihn zu sich geholt.«
Matt nickte. Allmählich begann er zu verstehen. »Dann… gibt es gar keinen echten Narka-to?«, erkundigte er sich ungläubig.
»Es gab ihn«, versicherte Sam. »Bis er starb. Das war vor dreißig Tagen.«
»Aber dann…« Matt wurde schwindlig, als er eins und eins zusammenzählte. Er selbst hielt sich erst seit zwei Tagen in den Bergen auf - also waren Aruula und er nur auf diese Attrappe getroffen. Sein Stolz wehrte sich dagegen, dass er auf ein Schreckgespenst aus Holz und Fell hereingefallen sein sollte. Andererseits hatten sie den Narka-to im Schneetreiben mehr gehört als
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