0062 - Der tödliche Zauber
noch viel strenger, als sie es heute sind. Damals hielten die Zigeuner sich ausschließlich für sich und mieden geradezu den Umgang mit anderen, Fremden, die nicht zu einer der Sippen gehörten. Unsere Vorfahren zogen wie wir durch Europa und verdienten sich den Lebensunterhalt mit kleineren Arbeiten, Scherenschleifen, Messerschleifen, Töpfe flicken und dem Verkauf von selbstgefertigtem Schmuck. Sie waren immer unterwegs, und nirgends blieben sie lange. Doch sie hatten untereinander sehr gute Verbindungen. Die Sippen kannten sich gegenseitig, und immer wußte man, wo man sich zu suchen hatte. Auch unsere Vorfahren waren mit ihren Wagen unterwegs. Damals waren die Sippenältesten zwei Brüder, Rosario und Branko. So ähnlich sie sich in ihrem Äußeren waren, so Verschieden waren sie jedoch im Wesen. Während Rosario der Weiche, Nachgiebige, Freundliche war, zeigte Branko in allem eine unerbittliche Härte, die manchmal bis zur Grausamkeit ging. Das ließ sich die Sippe natürlich nicht gefallen. Besonders die Bevormundung in Angelegenheiten, die alle Mitglieder der Gruppe angingen. Mittels einer Art Wahl wurde Branko dann praktisch abgesetzt und Rosario zum alleinigen Führer bestimmt. Branko blieb weiterhin bei der Sippe und fuhr mit ihnen. Doch lebte er immer zurückgezogener. Er mischte sich nicht mehr ein und trat auch nicht mehr beim Sippenrat auf. Eines Tages hatte er einen neuen Wagen. Woher er ihn hatte, wuß- te damals niemand zu sagen. Zumindest ist in den handschriftlichen Aufzeichnungen aus dieser Zeit nichts darüber nachzulesen. Dieser Wagen muß der prächtigste gewesen sein, den man je bei einem Zigeuner gesehen hatte. Man vermutete, daß Branko ihn gestohlen oder sich das Geld angeeignet hatte, um ihn sich bauen zu lassen. Sie müssen wissen, Monsieur, daß die Zigeuner damals einen besonders strengen Ehrenkodex hatten. Wer stahl, wurde ebenso ausgestoßen, als hätte er sich gegen die Sippe vergangen. Man versuchte, Branko zur Rede zu stellen, doch Rosario war nicht der Mann mit der Härte, die er gebraucht hätte, um mit Branko fertig zu werden. Da Branko zum Erwerb seines Wagens nichts weiter sagen wollte, nahm man seine Schuld als erwiesen an und verstieß ihn. Er muß sich überraschend schnell mit dem Schuldspruch des Sippengerichtes einverstanden erklärt haben und machte sich auf seinen einsamen Weg. Doch bevor er die Gruppe verließ, sprach er noch einen Fluch aus, der regelmäßig unsere Familie heimsuchen sollte, solange er lebte. Erst schenkte diesem bösen Wunsch niemand Beachtung. Doch als die ersten schrecklichen Dinge geschahen, gewann der Fluch eine besondere Bedeutung für unsere Familie. Besonders auf die Frauen hat Branko es abgesehen. Immer wenn eine aus der Gruppe engeren Umgang mit Fremden pflegte, fand man sie wenig später wieder. Tot. Und auf der Stirn trug sie ein Brandzeichen – einen Drudenfuß. Das Zeichen glich dem auf einem Amulett, das damals unserer Familie gehört hatte. Man suchte danach und fand es nicht. Branko muß es gestohlen haben, als er die Sippe verließ. Erst Jahre später gelang es einem von uns, das schreckliche Geheimnis zu lüften. Branko muß einen Bund mit dem Satan eingegangen sein, der ihn mit unerschöpflicher Macht ausgestattet hat. Der Satan muß dem Zeichen, eben dem Drudenfuß, unheimliches Leben eingehaucht haben. Branko wurde zum Rächer, der unserer Sippe mit gnadenloser Härte nachstellte. Schlimmer noch, er benutzte die Unschuldigen, um seinen unseligen Gelüsten zu frönen. Er ist praktisch unsterblich, doch bezieht er seine Lebenskraft indirekt von den Fremden, den Nichtzigeunern. Jedes Jahr, wenn wir uns hier zu Ehren der Schwarzen Madonna versammeln, gebraucht er ein Mädchen unserer Familie als Werkzeug. Sie geht in den Ort, verbringt eine Nacht mit einem Mann, der auf sie ein Auge geworfen hat, und kehrt dann zurück ins Lager. Hier wartet sie auf den Schwarzen Branko, wie er mittlerweile nur noch genannt wird, und steigt in seinen Geisterwagen. Dort gibt sie die Jugend, die sie ihrem nächtlichen Liebhaber genommen hat, an den Schwarzen Branko weiter. Am nächsten Morgen oder sonst irgendwann ist sie dann wieder hier und kann sich an nichts erinnern. Sobald wir dann wieder von hier abreisen, ist es um sie geschehen. Sie wird gefunden – mit dem Brandzeichen auf der Stirn. Und in Saintes-Maries-de-la-Mer tauchen alte Männer auf, die von sich behaupten, viel jünger zu sein als sie aussehen. Dies wird von den örtlichen Organen
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